Nach Referendum: Ist die Integration der Deutsch-Türken in Neuss gescheitert?

Neuss · Mit keiner anderen Frage wurden die hier lebenden Deutsch-Türken Hakan Temel und Yasar Calik in diesen Tagen so oft konfrontiert wie mit der zum Ausgang des Erdogan-Referendums. Und auch Türkei-Expertin Waltraud Beyen wird immer wieder auf die aktuellen Ereignisse angesprochen.

Die Wahlergebnisse in der Türkei haben auch in Neuss eine Debatte entfacht.

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Als Abschaffung der Demokratie betiteln Erdogan-Gegner das Ergebnis der umstrittenen Wahl. Was ändert sich mit dieser Entwicklung? Der Ministerpräsident und die Regierung bleiben bis zur nächsten Wahl im Amt, die für November 2019 geplant ist. Dann wird der Präsident sowohl Staats- als auch Regierungschef. Es gibt zwar noch Wahlen, doch die Macht des Alleinherrschers ist enorm: Er kann unter anderem den Haushalt bestimmen, das Parlament auflösen, missliebige Gesetze blockieren und per Dekret regieren. Alle Anfragen zur Regierungsarbeit sind allein an ihn zu richten.

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Das sagen die Neusser zu den Entwicklungen:

Waltraud Beyen, CDU-Stadtverordnete, Vorsitzende des Deutsch-Türkischen Forum Neuss: Es ist schwierig, zu dieser Situation etwas zu sagen, wo ich seit über 30 Jahren mit dem türkischen Mitbürger in Nachbarschaft friedlich zusammen lebe. Bedauerlich ist, dass sich politisch alles so entwickelt hat. Nicht zu leugnen ist, dass in der Integration vieles falsch gelaufen ist. In meinen jährlichen Rechenschaftsberichten und Konzeptvorschlägen habe ich mit den türkischen Verbänden seit vielen Jahren darauf hingewiesen. Umsonst. Zu hoffen ist, dass beide Seiten ihre Fehler erkennen und daraus lernen. Integrationsmaßnahmen müssen mit und nicht über ihre Köpfe hinweg stattfinden.

Hakan Temel, SPD-Stadtverordneter mit türkischen Wurzeln: Dieses Ergebnis zeigt ganz klar, dass es eben nicht Erdogans Türkei ist, sondern, dass es eine beträchtliche Zahl an Bürgern gibt, die gegen das Referendum gestimmt haben. Insgesamt haben nach den aktuellen Zahlen 51,4 Prozent für sein Präsidialsystem gestimmt. Da gibt es also noch eine andere Seite und das ist auch gut so. Jetzt gilt es abzuwarten, wie es weitergehen wird. Ich erwarte, dass der Staatspräsident und die AKP die Nein-Sager ernst nehmen werden und auf sie eingehen, sie unterstützen und schützen. Eine Regierung misst sich daran, wie sie mit den Minderheiten umgeht. Die friedlichen Proteste begrüße ich, die muss eine starke Regierung aushalten und vielleicht tragen sie auch noch Früchte. Als unnötig empfinde ich dagegen die Integrationsdebatte hierzulande. Es gibt Defizite, keine Frage, aber die Wahlergebnisse der Türken, die in Deutschland gewählt haben (Anm. d. Red. 63,1 Prozent Ja-Stimmen) werden dramatisiert. Von insgesamt 3,5 Millionen Deutschtürken waren 1,5 Millionen wahlberechtigt. Gerade mal 450.000 haben für Ja gestimmt, das sind 13 Prozent — das ist nicht aussagekräftig. Ich hätte im übrigen mit Nein gestimmt. Es kann nicht gut sein, dass eine Person über so viel Macht verfügt — egal, um wen es sich handelt. Als deutscher Staatsbürger habe ich allerdings nicht an der Wahl teilgenommen.

Yasar Calik, CDU-Politiker mit türkischen Wurzeln: "In meinen Augen sollte der Ausgang der Wahlen gerade hierzulande gelassener gesehen werden. Viele Politiker, besonders die mit Migrationshintergrund, machen ein Bohei darum, gießen noch Öl ins Feuer. Dabei ist an dem Ergebnis ohnehin nichts mehr zu ändern. Und wer jetzt eine Debatte startet, kommt 20 Jahre zu spät. Ich konzentriere mich als deutscher Staatsbürger auf die Landtagswahlen am 14. Mai. Mit Besorgnis verfolge ich Argumentationen einiger Mitbürger, die fordern, dass jene Türken, die Erdogan lieben, zurück in ihr Land gehen sollen. Damit wird der Bogen endgültig überspannt. In der Vergangenheit hat es in Sachen Integration Fehler von beiden Seiten gegeben. Folgendes Beispiel kommt mir da immer wieder in den Sinn: Wenn Sie in der Türkei in ein Apartment ziehen, kommen die Nachbarn zu Ihnen, um Sie zu begrüßen. In Deutschland läuft das genau umgekehrt. Ich finde das sagt sehr viel über die Unterschiede der Kulturen aus. Dennoch gibt es sehr viele Beispiele von gelungener Integration."

(Kurier-Verlag)