Schützenpräsident Martin Flecken im großen Interview „Trotz großer Traurigkeit sehe ich auch gewisse positive Seiten“

Neuss · 2020 ist ein historisches Jahr für den Neusser Bürger-Schützen-Verein (NBSV) – deshalb hat sich der Stadt-Kurier mit Schützen-Präsident Martin Flecken getroffen und wollte wissen: Was bedeutet denn das Coronajahr für den Verein und seine Zukunft – und wie begeht der Komitee-Chef eigentlich die Tage?

Im Interview mit der Stadt-Kurier-Redaktion spricht Schützenpräsident Martin Flecken offen über dieses ganz besondere Jahr.

Foto: Kurier Verlag GmbH/Rolf Retzlaff

Das diesjährige Schützenfest steht unter völlig anderen Vorzeichen. Wie lange hat es gedauert, bis das Komitee sich zur Absage entschieden hat – und wie traurig sind Sie darüber auf einer Skala von eins bis zehn?

Martin Flecken: Wir haben diese Entscheidung quasi gar nicht selbst getroffen – das waren die Kanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Bundesländer und wir haben uns gefügt. Deshalb gab es dann ja auch keine Zog-Zog-Versammlung – worüber hätten die Schützen abstimmen sollen? Wenn die Zehn auf der Skala Traurigkeit bedeutet, schätze ich mich etwa bei acht oder neun ein. Denn trotz großer Traurigkeit sehe ich auch gewisse positive Seiten. Durch Corona gab es ein gemeinsames Handeln, Überlegen und Denken, das es im Zuge der Routine eines normalen Schützenfestes so nicht gegeben hätte. Man ist noch irgendwie anders zusammen gewachsen und das schweißt zusammen. Und es gab auch viele tolle gemeinsame Aktionen, die bei den Bürgerinnen und Bürgern und Schützen gut ankamen, wie der große Kubus zum Thema „WIR.SCHÜTZEN.NEUSS“.

Ja, gerade diese Aktionen zeigen doch, dass die Schützen nicht nur ihr Schützenfest feiern, sondern dass noch mehr dahinter steckt, oder?

Genau das sage ich seit Jahren – das Schützenwesen ist kein Sommerbrauchtum, sondern eine Ganzjahresgemeinschaft. Unser Schützenfest ist nur die schillernde und schöne Spitze des Eisbergs. Das zeigt sich auch besonders im Kleinen. Viele Züge unternehmen das ganze Jahr über etwas gemeinsam und werden auch an den Festtagen 2020 zum gemeinsamen Frühstück, auch mit Frauen und Kindern, zusammenkommen oder gar gemeinsam über das Wochenende wegfahren. Mein Sohn fährt beispielsweise mit seinen Zugfreunden nach Holland.

Und wie verbringen Sie das Festwochenende?

Ich werde meinen eigenen Zug, den Schützenlustzug „Nur So“, wegen einiger wegfallender Verpflichtungen dieses Jahr öfters sehen. Den Freitagabend zum Beispiel verbringen wir im Garten eines Zugkameraden, dort ist genug Platz, um auch den gebotenen Abstand einzuhalten. Und während wir Männer am Samstag die Jahreshauptversammlung nachholen, die im Frühjahr Corona-bedingt ausfallen musste, treffen sich unsere Frauen zu einer gemeinsamen Radtour. – Ein paar traditionelle Termine bleiben mir aber doch, wie die Totenehrung am Samstag, an anderem Ort und zu anderer Zeit als sonst und nur ein Vertreter jedes Korps kommt dazu. Außerdem besuchen wir das Hochamt in St. Quirin, das dann sozusagen zum Schützenhochamt wird und gehen als Komitee abends gemeinsam essen. Alles unter Einhaltung des Corona-Rahmens!

Welche Möglichkeiten haben denn die Neusser Schützen und Bürger, ein bisschen Schützenfest zu feiern?

Vorgesehen ist, dass wir sowohl am Schützenfestsamstag als auch -sonntag mehr als zehn Stunden lang einen Stream auf unserer Homepage anbieten (www.schuetzenfest-neuss.com). Das Programm zeigt Interviews, Musik und kleine Filmchen. Auch unsere Sponsoren kommen zu Wort und Sozialaktionen, die einige Züge in den vergangenen Wochen initiiert haben, werden gezeigt. Ihr Engagement soll sichtbar werden. Die Scheibenschützen werden beispielsweise am Sonntagvormittag ein wenig schützenfestliche Stimmung – unter Berücksichtigung aller Auflagen sogar mit Musikkapelle – ins Johannes-von-Gott-Heim bringen.

Schützenpräsident Martin Flecken bei seiner Rede im vergangenen Jahr auf dem Markt. Diesmal wird er mehr Zeit mit seinen Zugkameraden verbringen können.

Foto: Kurier Verlag GmbH/Rolf Retzlaff

In diesem Zusammenhang noch einmal zurück zur Aktion „WIR.SCHÜTZEN.NEUSS“. Wer hatte die Idee dazu?

Die Idee zum großen Schützenposter hatten Marc Hillen von der Werbeagentur h1, der auch unser Programmheft umsetzt, und Ralph Kindel, der uns eigentlich erst im kommenden Jahr als Berater für Kommunikation und Marketing nach außen zur Seite stehen sollte. Dankbar waren wir für die finanzielle Unterstützung zur Umsetzung des Projektes vor allem durch die RheinLand Versicherungsgruppe und die Stadtwerke Neuss sowie die Sparkasse Neuss. Das Komitee war sofort von der gesamten Aktion begeistert.

Das Schützenfest kostet, grob überschlagen, knapp eine Million Euro. Hat der NBSV durch die Absage in diesem Jahr viel Geld versenkt?

Eigentlich kaum. In den Verträgen mit den meisten Musikkapellen steht eine Klausel, dass der Verein nicht haftet, wenn das Schützenfest aufgrund höherer Gewalt ausfallen muss. Und mit rund 330.000 Euro, die im Normalfall für die Kapellen eingeplant sind, ist die Musik der größte Posten auf der Liste. Rund ein Drittel der Gesamtkosten stemmen wir außerdem durch die Mitgliedsbeiträge. Wir hatten im Vorfeld die Schützen dazu aufgerufen, durch den Kauf einer Aktivenkarte ihre Mitgliedschaft solidarisch fortzusetzen, selbst wenn es in diesem Jahr kein Schützenfest gibt. Für diejenigen, die gern irgendwann als Jubilare geehrt werden wollen, habe ich vielleicht ein bisschen Druck gemacht: Das Silberkränzchen kriegt nur, wer 25 Jahre am Stück dabei war... (lacht)

Ein hoher fünfstelliger Betrag an Ausgaben ergibt sich allein durch die Mieten für die Fackelbauhallen, die ja leider dieses Jahr nicht zu ihrem Zweck genutzt werden konnten; die Mieten machen einen Betrag von rund 200.000 Euro aus, die Stadt Neuss bezuschusst das nach den Vereinbarungen mit Bürgermeister Reiner Breuer vom letzten Jahr und den Beschlüssen der städtischen Gremien mit rund 120.000 Euro.

War die Suche nach Sponsoren in diesem Jahr schwierig?

Bei der Aktion „WIR.SCHÜTZEN.NEUSS“ lief es dank RheinLand, Stadtwerken und Sparkasse Neuss gut, auch das Möbelhaus Höffner hat da merklich unterstützt. Außerdem sponsern die Stadtwerke wie jedes Jahr eine große LED-Wand, die diesmal allerdings nicht am Pegel, sondern gegenüber dem großen Kubus am Markt stehen und unter anderem den Stream zeigen wird. Ein paar Sponsoren sind abgesprungen, wir haben auch weniger Anzeigen in unserem Programmheft. Einige haben sich aber gesagt: Aus Solidarität unterstütze ich Euch jetzt erst recht! Unser Dank gilt allen Sponsoren und Spendern.

Gab es einen großen Rückgang an Schützen, die ihre Mitgliedschaft verlängert haben?

Es sind rund 300 weniger als 2019. Das finde ich aber nicht so schlimm. In den Vorjahren wurden immer wieder alle Rekorde gebrochen – so konnte es nicht ewig weitergehen... Natürlich haben auch wir Verständnis für Corona-bedingte finanzielle Engpässe bei manchem und sind andererseits dankbar, dass so viele dem Verein treu geblieben sind und bleiben.

Betreiben wir doch einmal Kaffeesatzlesen: Wie, denken Sie, geht es 2021 weiter?

Wir können nur hoffen, dass das Schützenfest im kommenden Jahr wieder stattfinden kann. Solange es keinen Impfstoff gegen das Corona-Virus gibt, könnte das schwierig werden... Andererseits kann man auch nicht jahrelang alle Veranstaltungen verbieten. Da muss man in der Politik vorsichtig sein. Schon zu Beginn der Krise habe ich in einem Gespräch mit dem Leiter des städtischen Krisenstabs Holger Lachmann (Dezernent für Bürgerservice, Personal und Sicherheit, Anmerkung der Redaktion) darüber gesprochen, was man tun kann, um gegebenenfalls einen Lagerkoller zu verhindern. Gemeinsam mit der Stadt Neuss haben wir einen Plan erstellt, was wir in den kommenden Tagen wollen und was nicht und haben uns schnell und gut auf einen Konsens geeinigt. Ich möchte noch einmal dringend an die Schützen und Bürger appellieren, sich auch an diesem Wochenende an die bestehenden Vorgaben zu halten. Am besten lassen sie ihre Uniformen und so weiter ganz zu Hause. Bei den Ehrenabenden lief es schon mal ganz gut und gesittet. Aber auch an diesem Wochenende darf der gute Ruf des Neusser Bürger-Schützenfestes nicht beschädigt werden.

Welchen Stellenwert hat das Schützenfest in Ihren Augen?

Das Fest hat für mich einen sehr hohen Stellenwert, weil es die Bevölkerung sehr miteinander verbindet und vernetzt. 6.000 Schützen klingt bei rund 160.000 Einwohnern erst einmal nicht so viel, aber da hängen auch passive Mitglieder, die Familien und Freunde mit dran. Am Schützenfest treffen sich ja Neuneusser und Menschen mit Neusser Wurzeln aus aller Herren Länder in unserer Stadt. Schade, dass das Leben auf der Wiese in diesem Jahr nicht stattfinden kann; denn das ist ein ganz besonders bunter Ort der Begegnung. – Andererseits: Corona schmiedet Züge auch zusammen – statt einmal im Monat in unserem Zuglokal trifft sich mein Zug zum Beispiel fast wöchentlich in Zoom-Konferenzen.

Und was lernt der Verein aus der Krise?

Auch viel Positives, es gab ein gewisses neues Zusammenwachsen. Das Virus hat in vielen Teilen zu einem Nachdenken geführt und uns Dinge, die für uns selbstverständlich waren, neu und anders vor Augen geführt: auch wie wichtig es ist, dass alle gesund und zuversichtlich bleiben, aber man auch mal gemeinsam feiern sollte – menschliche Nähe! Gottvertrauen und Vernunft helfen uns weiter und das gelingt dem Rheinländer vielleicht besonders gut, wie auch manche Sprüche des „Rheinischen Grundgesetzes“ zeigen: Et is wie et is, et kütt wie et kütt, wat wells de make und – so hoffen wir – et es noch emmer jot jejange.

Vielen Dank!

Das Interview führten D. Furth, H. Loll und R. Retzlaff