Diese Neusser Behinderten-WG ist nach neuem Gesetz in Gefahr

Neuss · Schwerst- und Mehrfachbehinderte zittern um ihre Zukunft. Das neue Bundesteilhabegesetz soll sie stark benachteiligen. Der Stadt-Kurier besuchte eine Neusser Wohngemeinschaft, die nach Verabschiedung des Gesetzes in Gefahr wäre.

Christian Sieg (links) lebt mit seinen ebenfalls schwerbehinderten Freunden in einer WG in Reuschenberg. Diese Einrichtung ist nach dem neuen Gesetz in Gefahr.

Foto: Fotos: Violetta Buciak

Christian Sieg strahlt über das ganze Gesicht. Der 32-Jährige lebt seit Mai 2015 in der WG für Behinderte auf dem Lorbeerweg in Reuschenberg, fühlt sich dort pudelwohl. Für den Rollstuhlfahrer, der unter der Tetraspastik leidet, war der Auszug aus seinem Elternhaus — wie für viele junge Erwachsene — ein Wendepunkt in seinem Leben. Endlich selbstständig sein, ein eigenes Leben beginnen. Was für andere Normalität ist, war für Schwerbehinderte wie Sieg lange unerreichbar. Die Alternative: bei den Eltern bleiben oder in ein Pflegeheim ziehen, in dem meist alte Menschen leben — isoliert von der Gesellschaft.

In der Reuschenberger WG wohnt Sieg mit Freunden zusammen, die er schon lange kennt. Alle sind schwerstbehindert und in einer Altersklasse, die Bewohner verstehen sich blind untereinander. Tagsüber geht es für die meisten zur Arbeit in die Behindertenwerkstatt, nachmittags unternehmen die jungen Erwachsenen gern etwas, gehen ins Kino, kegeln oder etwas essen. Rund um die Uhr steht ein Team von Pflegern und Betreuern zur Verfügung. "Wir schreiten dann ein, wenn die Bewohner Hilfe benötigen", sagt Bereichsleiter Klaus Schiller.

Für die Eltern von Christian Sieg eine riesige Erleichterung. "Auch wir werden älter. Endlich können wir entspannt in die Zukunft blicken, wissen unseren Sohn in guten Händen", sagen Ursula und Raimund Sieg. Regelmäßig kommen sie Christian besuchen und erleben ihn zufriedener denn je. Über 15 Jahre Arbeit hat es gekostet, WGs wie diese zu realisieren. Jetzt steht diese Wohnform auf der Kippe. "Sollte das Bundesteilhabegesetz realisiert werden, ist die Finanzierung so einer WG nicht mehr möglich", warnt Wilfried Gaul Canjé, Geschäftsführer der St. Augustinus-Behindertenhilfe.

Wer bereits in einer dieser Wohngemeinschaften lebt, habe durch einen Zusatz im Gesetz zunächst nichts zu befürchten — zukünftige Generationen müssten jedoch auf dieses Angebot verzichten. "Das wäre sehr schade. Diese Möglichkeit sorgt sowohl bei den Angehörigen als auch bei den Betroffenen für mehr Lebensqualität", sagt Raimund Sieg. Mit dem "Neusser Appell" will der Bundesverband Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. den Neusser Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe umstimmen und eine Änderung des Gesetzes herbeiführen.

(Kurier-Verlag)