Hauptgeschäftsführer der IHK Mittlerer Niederrhein Jürgen Steinmetz „Wir können in Europa zur Vorzeigeregion werden!“

Jürgen Steinmetz ist Hauptgeschäftsführer der IHK Mittlerer Niederrhein. Als Wirtschaftsexperte wirft Steinmetz für den Stadt-Kurier einen Blick auf die aktuelle Situation der Wirtschaft und wagt einen Ausblick auf die kommenden Jahrzehnte.

 Jürgen Steinmetz, Hauptgeschäftsführer IHK Mittlerer Niederrhein.

Foto: IHK

Neuss. Der Rhein-Kreis Neuss bekommt von unabhängigen Experten regelmäßig gute Noten als import- und umsatzstarker Wirtschaftsstandort. Wie schätzt Steinmetz die aktuelle Situation ein? „Unsere Vergleiche zeigen: Der Rhein-Kreis Neuss ist steuerstark und hat eine hohe Produktivität. Insbesondere die Standortqualität in der Stadt Neuss ist ausgesprochen positiv zu werten. Unsere Umfrage von 2018 für die Stadt Neuss zeigt, dass die Unternehmen sehr zufrieden sind, da gab es eine Durchschnittsnote von 2,29. Dennoch muss man sagen: Zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts waren wir in der Produktivität überdurchschnittlich hoch – und sind mittlerweile nur unterdurchschnittlich. Das bewegt sich noch alles auf hohem Niveau, aber man sieht: Die anderen Regionen holen auf! Deswegen müssen wir weiter in vielen Bereichen Gas geben, damit wir nicht verlieren.“

Beim Blick in die Zukunft, auf die Entwicklung der kommenden Jahrzehnte, beschäftigt Steinmetz vor allem ein Thema: „Das ist der Ausstieg aus der Braunkohleförderung und die damit verbundene Transformation der Wirtschaft. Das hat für uns im Rhein-Kreis Neuss natürlich eine ganz besondere Bedeutung. Gerade mit Blick auf die energieintensive Industrie, also Aluminium, Chemie und Nahrung. Da wird es darum gehen, dass wir auch in der Zukunft eine sichere Energieversorgung haben – zu wettbewerbsfähigen Preisen. Aus dem Strukturwandel darf kein Strukturbruch werden!“

Die Transformation einer ganzen Industrieregion birgt viele Risiken, doch Steinmetz will auf keinen Fall zu schwarz sehen: „Das ist natürlich auch eine Riesenchance! Wenn wir das gut hinbekommen, dann können wir zur Vorzeigeregion für ganz Europa und darüber hinaus werden. Insbesondere, wenn wir es in der Region schaffen, unsere Emissionen deutlich zu senken und gleichzeitig ein starker Industriestandort bleiben. Das wird aber nur gelingen, wenn alle Akteure an einem Strang ziehen und wenn die Mittel, die dafür zur Verfügung stehen, zielgerichtet eingesetzt werden.“ Ein dringender Appell an die Entscheider, an Kommunen, Bund, Land, Gewerkschaften und Wirtschaftsvertreter, die es gilt, unter einen Hut zu bekommen. Doch es erfordere mehr als nur den guten Willen zu einer guten Zusammenarbeit. „Wir brauchen dringend ein gutes Angebot an Gewerbeflächen“, mahnt der Fachmann, „das ist mit Blick auf die Stadt Neuss eine große Herausforderung, denn ehemalige Gewerbeflächen werden jetzt in Wohnstandorte umgewandelt, wobei es hier selbstverständlich auch einen großen Bedarf gibt. Aber wir müssen sicherstellen, dass es für geplante Ansiedlungen von Unternehmen ein ausreichendes Angebot an Grundstücken gibt. Außerdem brauchen wir auf jeden Fall eine gute digitale Infrastruktur. Das zeigt ein Blick auf unsere Standortumfrage. Die Unternehmen sind mit der digitalen Infrastruktur nicht zufrieden. Da gab es nur eine Schulnote von 2,9. Und ich glaube, da müssen wir zulegen!“

Ein dritter Faktor sei das Thema Fachkräfte. Man müsse in der Region alles tun für eine gute Qualifizierung und Ausbildung. Die IHK will ihren eigenen Beitrag leisten mit einem Prüfungs- und Weiterbildungszentrum am Neusser Wendersplatz. Auch die Hochschule Niederrhein wird sich daran beteiligen. Die Hochschule unterstützt als Partner darüber hinaus die Umsetzung des Lebensmittel-Launchcenters, in dem Unternehmen und Wissenschaft gemeinsam innovative Produkte entwickeln und zur Marktreife bringen.

Unvermeidlicher Diskussionspunkt ist das liebe Geld. „Ein großes Thema werden Steuern und Abgaben sein. Hier gehört der Rhein-Kreis Neuss zu den Standorten, die hohe Abgaben fordern. Da wird man aufpassen müssen, dass man nicht abhebt. Die Gewerbesteuerhebesätze sind bereits jetzt ein Standortnachteil im Vergleich zu anderen Regionen außerhalb von Nordrhein-Westfalen.“

Wenn die Voraussetzungen für Gewerbeflächen, Steuern, Abgaben und digitale Infrastruktur gegeben sind, dann brauche es am Ende auch eine schnelle Umsetzung, vor allem über unkomplizierte Planungs- und Genehmigungsverfahren. Da müsse Deutschland „insgesamt besser“ werden. „Diese Vorgänge brauchen alle viel zu lange“, analysiert Steinmetz.

Mit Blick auf die Vergangenheit möchte der IHK-Hauptgeschäftsführer seine Aussicht in die Zukunft ableiten: „Wir können froh sein, dass wir in unserer Region ein starker Industriestandort sind. Wenn ich mir unsere jüngste Konjunkturumfrage ansehe, ist der Industriebereich bisher gut durch die Krise gekommen. Die Industrie ist und bleibt ein Zugpferd für alle Branchen, die vom Verarbeitenden Gewerbe profitieren. Und ich gehe davon aus, dass alle Betriebe, die auch weiterhin in Fachkräfteausbildung und Innovation investieren, international wettbewerbsfähig bleiben.“ Der Fachkräftemangel beschäftigt unser Land bereits seit geraumer Zeit, doch die Ursache dafür erkennt Steinmetz nicht in erster Linie in Wirtschaft und Ausbildung: „Der Engpassfaktor sind weniger die Unternehmen. Es gibt vielmehr zu wenige Menschen, die als Fachkräfte zur Verfügung stehen. Wir sehen das an den eingetragenen Ausbildungsverhältnissen. Sie liegen im Vergleich zur Zeit vor der Coronakrise um zehn Prozent niedriger. Es gibt weniger junge Menschen, die sich dafür entscheiden, eine duale Ausbildung zu machen, um dann als Fachkraft in einem Unternehmen zur Verfügung zu stehen.“

Bei der Aussicht auf die kommenden 40 Jahre ist Steinmetz optimistisch, dass der Rhein-Kreis Neuss immer noch ein starker Industriestandort sein wird: „Der eine oder andere Betrieb wird vermutlich in den Rhein-Kreis Neuss zurückkommen als Folge der Lieferkettensituation. Wie zum Beispiel C&A, die heute wieder Teile ihrer Kollektion in Mönchengladbach produzieren. Das hätte man vor ein paar Jahren für undenkbar gehalten. Auch in Sachen Verkehrsinfrastruktur und Digitalisierung werden wir noch einiges zugelegt haben. Dinge, die heute noch als Pilotprojekte angelegt sind, wie Flugtaxen und autonomes Fahren werden in den kommenden Jahren eine stärkere Rolle spielen.“

Thomas Broich.