Kardinal prangert Rufmorde in der Kirche an: „Dürfen Menschen nicht wie Müll behandeln“
Neulich war der neue Erzbischof von Köln in Neuss. Kardinal Woelki hat hier mehrere Jahre als Kaplan gearbeitet. Doch der erste Besuch als Oberhirte war für viele ehemalige Gemeindemitglieder enttäuschend.
Woelki kam in die viel zu kleine Turnhalle am St. Josef-Krankenhaus zum Augustinus-Forum. Hunderte erhielten keinen Einlass. Selbst sein ehemaliger Neusser Friseur bekam keine Eintrittskarte. Die Stadt wollte von den Augustinerinnen für die besser geeignete geeignete Stadthalle 4000 Euro Miete haben. Zu teuer. Im Forum selbst sprach der Bischof dann aber Tacheles.
von Frank Möll
Neuss.
Auch im Saal murrten die Zuhörer. Wichtige Männer in düsteren Anzügen dozierten und wollten gar nicht mehr aufhören. Stimmung wie im moraltheologischen Seminar. Die gut vorbereitete Moderatorin Christiane Florin musste durchgreifen, denn im Verlauf der zweistündigen Diskussion kam der Kardinal viel zu selten zu Wort. Meistens schließt er die Augen, meditiert vor sich hin, lächelt gequält. Wahrscheinlich hat er auch Hunger. Er kommt von Düsseldorf, feierte dort eine Messe. Niemand bietet ihm etwas zur Erfrischung an. Seine Sprudelwasserflasche am Tisch (Rheinfürst-Quelle ist die Billig-Marke bei Getränke Hilgers) bleibt fest verschlossen. Wer ihn kennt, weiß, dass er auch Wut empfinden kann. Vor genau jenen Neussern, die ihn früher als Kaplan einmal „den Doof“ nannten, traktierten ihn Gelehrte mit unfrohen und düsteren Fragen zur Sexualmoral und Eheschließungen geschiedener Paare. Zuvor lief traurige Choralmusik, kaum jemand klatschte, nur wenige lachten. Diese unfrohen „Fastengesichter ohne Ostern“ prangern Papst Franziskus und er zurecht an. Professor Rita Süßmuth und Dr. Jörg Geerlings schauen vergnügt zu, als ihm Techniker ein dämliches Headset anlegten. Oberpfarrer Assmann gibt Tipps, wie er das graue Kabel unter der Soutane verschwinden lassen kann, was nicht gelingt.
Dann irgendwann explodiert der Kardinal innerlich, spricht aber weiter ruhig: „Wie oft begehen wir in unseren Pfarrgemeinden Rufmord? Das muss aufhören. Wir versuchen meist, dem Übernächsten zu helfen und übersehen den Nächsten vor unserer Haustüre. Wir hier sind doch reich, haben moderne Pfarrheime und Einrichtungen. In Berlin werden von November bis März auch nachts Pfarrheime geöffnet, Obdachlose von Pfarrangehörigen betreut.“
Das sitzt. Es ist eine Ermahnung an die Neusser Elite-Katholiken, die das Pfarrleben und Christsein exklusiv für sich reklamieren. Ein geschlossener Club aus Frauenunion, nein, Frauengemeinschaft und Kirchenchor? 300 Abtreibungen pro Jahr in Neuss, obdachlose Kinder, hungernde Menschen, die auf die Neusser Tafel angewiesen sind, die weit draußen mit Hilfe der Christlich Demokratischen Union vor die Tore der Stadt ohne Busanbindung verbannt wurde. 1000 verzweifelt wohnungssuchende Mütter und Kinder im überfüllten Wartebereich des komplett überforderten Neusser Bauvereins, der nur knapp 30 freie Wohnungen anbieten kann, dessen Führungs-Crew aber in München mit sechs Vertretern oktoberfestmäßig auf Kosten der Allgemeinheit im Rahmen der Expo die Sau rauslässt und selbst in feinen Villen bei Bergisch Gladbach und Ratingen wohnt, weit weg von den Menschen, die nicht wissen, wie es in Neuss weitergehen soll, weil die Miete und Nebenkosten unbezahlbar sind.
Wer ist eigentlich arm? Auf die Frage der Moderatorin meldet sich nur einer der 600 Zuhörer. Dem springt Woelki bei: „Auch ich bin arm. Arm an Anerkennung, Beziehung, Glück, Liebe. Jeder von uns ist arm, auch wenn die Geldbeutel üppig gefüllt sind.“ Auch das hat gesessen. Christiane Florin kitzelt solche Aussagen aus ihm heraus. Sie provoziert, er lächelt milde.
Der wieder freundliche Hirte Woelki erteilt seinen Schafen eine Lektion nach der anderen. Die werden es gar nicht so verstehen an diesem netten Kultur-Abend, der den Rentnern Zerstreuung bringen soll. „Wir dürfen Menschen nicht wie Müll behandeln.“
Die Schafe des Hirten aber wollen nur wissen, ob sündige Ehebrecher die Heilige Kommunion empfangen dürfen oder nicht und ob die Synode die Regeln lockert. Hoch interessant, dieser Mann. Nur leider durfte er kaum reden, was aber nicht an der Moderation lag, sondern an der Besetzung des Podiums, das ein offenbar schwerhöriger Prälat im Sonntagsanzug (nicht qualitativ) dominierte.
Auch Oberpfarrer Assmann, den Woelki mit „hallo, Guido“ begrüßte, sagte nachher: „Es wäre besser gewesen, man hätte nur den Kardinal als Gast eingeladen. Die Menschen sind doch wegen dem neuen Erzbischof gekommen.“ Assmann verspricht seinen Katholiken einen Termin, wo ihn alle Neusser sehen und sprechen können: Beim Quirinusfest im April! Auch Woelkis ehemaliger Friseur, der mittlerweile dreist ohne Einlasskarte ins Augustinus-Forum eingebrochen war, freut sich auf die erste echte Begegnung in Neuss.
Kann Woelki Papst werden?
Warum nicht. Er ist der drittjüngste Kardinal der Welt und wird noch das ein- oder andere Konklave im Vatikan mitprägen. Köln unterhält viele Hilfsprojekte in Lateinamerika und Woelki kann das üppig vorhandene Kölner Geld segensreich einsetzen. Das macht Freude und Freunde. Woelki spricht viele Sprachen, auch fließend italienisch. Als der Mailänder Kardinal Scola in Köln war, begrüßte Woelki diesen in dessen Muttersprache. Der ehemalige Neusser Kaplan ist bescheiden, kommt überall gut an. Das Problem nur: Der FC-Fan will gar nicht Papst werden, will in Köln bleiben.
„Der Doof“ - warum nennen
einige Neusser Woelki so?
Woelki hat als Kaplan an St. Marien den Neussern die Sauftouren nach Rom abgewöhnt. Er hat sich damals zuerst unbeliebt gemacht, als er die Jugendleiter bewegte, zum Beispiel bei den Fahrten auch den Glauben in den Vordergrund zu stellen. „Als ich mit ihnen in Assisi Zwischenstopp machen wollte, haben die gedacht ´lass den Doof mal.´“ Woelki vermutete nur, dass sie ihn „den Doof“ nannten, weiß es aber selber nicht genau. Diese Geschichte verbreitete er mehrfach. Tut er den Neussern Unrecht? „Auch ich kann eigentlich nicht immer zur Kommunion gehen“, sagt Woelki. Laut Lehrmeinung der Katholischen Kirche sollte ein Katholik nicht das Sakrament empfangen, wenn er schwere Sünden vorher nicht gebeichtet hat und Buße tut. Woelki ist also ein Sünder wie wir alle, manchmal auch gemein und ungerecht. Sympathisch! Einer wie wir!
Wird Woelki einige Neusser Kirchen abreißen?
Ja, das ist wahrscheinlich. Kardinal Meisner hatte sich immer geweigert. Doch Woelki wird nicht umhin kommen, da die Unterhaltung der vielen Neusser Kirchen viel zu teuer ist. In manchen Kirchen wird nur einmal pro Woche ein Gottesdienst gefeiert. Die Dichte der Kirchen ist gerade in Neuss enorm. Weniger Gläubige bedeutet weniger Kirchenbauten. So einfach ist das. Dechant Hans-Günther Korr geht fest davon aus, dass schwierige Entscheidungen bald anstehen werden.
Was erwartet er von seinen
Katholiken auch in Neuss?
Menschlichkeit. Neuss gehört zu den Städten, die viele Flüchtlinge aufnehmen. Israel ist aus Ägypten geflüchtet. Jesus war als Kind ein Flüchtling und ist mit Maria und Josef vor Herodes geflüchtet. Sprüche wie „das Boot ist voll“ will er nicht gelten lassen. Und: Woelki erwartet Solidarität mit Berlin. An den Kosten der Hedwigs-Kathedrale sollen sich alle wohlhabenden Bistümer beteiligen. Woelki will, dass Katholiken in der Hauptstadt Präsenz zeigen.
Mischt er sich in die Neusser Kommunalpolitk ein?
Indirekt ja. Einem Bürgermeister-Kandidaten hat er Glück gewünscht. Es sei gut, wenn sich Christen engagieren.