Vorwurf Freiheitsberaubung +++ Kinder durften erst kurz nach Gong gehen Lehrer Parusel trotz Freispruch kritisch „Vertrauen in Rechtssystem erschüttert“
Kaarst/Neuss · Durch die sozialen Netzwerke machte sich Sekunden nach dem Freispruch von Musiklehrer Phillip Parusel große Erleichterung breit. Ein Gefühl, das der 50-Jährige nicht teilen konnte. Sein Vertrauen in das Rechtssystem sei erschüttert, sagte er.
Er wirkte müde, fast teilnahmslos, als Staatsanwältin Laura De Bruyne ihr hartes Plädoyer verlas. Weil er seine Schüler erst wenige Minuten nach dem Gong aus dem Unterricht entließ, musste Parusel die Anklagebank drücken. Sogar den Vorwurf der Körperverletzung — der eigentlich schon vom Tisch war — wärmte die Staatsanwältin noch einmal auf, sprach sich zumindest für den Schuldspruch der fahrlässigen Körperverletzung aus.
"Wenn eine Traube von Kindern um einen herumsteht, fuchtelt man nicht mit den Armen herum", so De Bruyne forsch. Parusel hatte laut Anklageschrift einen Schüler mit einem Papier in die Magengrube getroffen. Später relativierte der betroffene Junge selbst und gab zu, kaum Schmerzen verspürt zu haben. Noch deutlicher sprach sich die Staatsanwältin dafür aus, den Musiklehrer für den Vorwurf der Freiheitsberaubung schuldig zu sprechen. Denn — bei allem Verständnis für den stressigen Alltag von Lehrern — es ginge nicht um persönliches Empfinden, sondern um das Gesetz. "Parusels Verhalten war demnach ganz klar eine Straftat", so De Bruyne.
Und um Kinder disziplinarisch zu erziehen, gebe es laut Schulgesetz andere Möglichkeiten, als die Schüler im Klassenraum festzuhalten, bis sie ihre Strafarbeiten abgegeben haben. Man hätte im Nachgang Nachhilfestunden ansetzen können, dann aber vorher die Erziehungsberechtigten benachrichtigen müssen, man hätte bis zum Schulverweis gehen können.
Gelächter im Zuschauerraum, von wo aus viele Lehrer den Prozess mitverfolgten — Unverständnis auf beiden Seiten. Verteidiger Andreas Vorster wertete Parusels Verhalten dagegen als erzieherische Maßnahme, legitimiert durch das Schulgesetz. Für den Angeklagten war es ein harter Kampf — ein Kampf für alle Lehrer. Nach dem ersten Urteil des Amtsgerichts in Neuss — einer Strafe von 1.000 Euro unter Vorbehalt — war der 50-Jährige in Revision gegangen. In den vergangenen Monaten hatten ihn viele Kollegen aus dem ganzen Land ermuntert, ihm Mut zugesprochen. Doch die Prozesse haben dem 50-Jährigen viel abverlangt.
"Mein Beruf macht mir sehr viel Spaß. Wenn mich aber heute jemand fragen würde, ob ich ihn noch mal ergreifen würde, müsste ich mir das genau überlegen", so Parusel auf der Anklagebank. Seine letzten Worte vor Gericht nutzte er dafür, von seiner ersten Begegnung mit dem klagenden Schüler zu berichten. "Anstatt dem Unterricht zu folgen, las er das Bürger-Gesetzbuch. Er wolle unbedingt Anwalt werden, sagte er. Dass diese Situation nun zu diesem Prozess mit einer solchen Tragweite führen würde, hätte ich nicht erwartet", so der Lehrer. Schlussendlich gab ihm Richter Rainer Drees recht. Die Befragung vieler Schüler in der Schule gestern Morgen habe ergeben, dass sie die Situation in der Klasse nicht als "gravierend" empfunden hätten. "Somit kann aus unserer Sicht von einer Freiheitsberaubung keine Rede sein", so der Richter.
Parusel verließ den Gerichtssaal dennoch nachdenklich: "Mein Vertrauen in das Rechtssystem ist erschüttert. Wie die zweifelhaften Aussagen von ein paar Schülern die ganze Erwachsenenwelt so in Atem halten konnten, hat mich nachdenlich gemacht."