Dr. Hitze sagt, warum die CDU verloren hat Ist die Partei Jörg Geerlings in den Rücken gefallen?

Neuss · Warum hat die Partei dem Vorsitzenden Dr. Jörg Geerlings nicht ermuntert, für das Amt des Bürgermeisters zu kandidieren? SPD-Fraktionschef Arno Jansen sagt: "Er wäre sicher gegen Reiner Breuer in die Stichwahl gekommen." Auf dem Parteitag gestern analysierte Dr. Guido Hitze von der CDU-Landesgeschäftsstelle die Wahl.

Er selbst wohnt in Neuss und sagt: "Das war keine höhere Gewalt".

Hier die komplette Analyse, die Dr. Hitze dem Stadt-Kurier gerne zur Verfügung stellt:

Analyse der Bürgermeister- und Landratswahl in Neuss vom 13.09.2015

1. Die Wahl als Persönlichkeitswahl

Der Ausgang der Bürgermeisterwahl vom 13. September 2015 bedeutet für die Stadt Neuss einen tiefen Einschnitt, ja eine historische Zäsur, für die stolze Neusser Union dagegen nicht nur ein regelrechtes Debakel, sondern einen absoluten Tiefpunkt.

Tiefpunkte aber sind gemeinhin auch Wendepunkte.

Bei einer ebenfalls historisch niedrigen Wahlbeteiligung von lediglich 40,2 % entfielen auf den Kandidaten der CDU, Thomas Nickel, von insgesamt abgegebenen 48.038 gültigen Stimmen 17.453 = 36,3 %, auf den SPD-Kandidaten Reiner Breuer 25.970 Stimmen = 54,1 %. Eine Stichwahl war daher nicht notwendig. Das allein war schon eine Überraschung.

So eindeutig die Niederlage der CDU und umgekehrt so eindrucksvoll der Triumph der SPD in der Stadt Neuss auch ausgefallen ist, so wenig lässt sich aus dem Ergebnis an sich der Schluss ziehen, damit wären die bisherigen politischen Mehrheitsverhältnisse in der Quirinus-Stadt sozusagen auf den Kopf gestellt. Wie bei den übrigen Landrats- und Bürgermeisterwahlen des Jahres 2015 in Nordrhein- Westfalen war auch die Wahl in Neuss in erster Linie eine Personen- und keine Parteienwahl.

Ein Blick auf die zeitgleiche Wahl des Landrates für den Rhein-Kreis Neuss

unterstreicht diese Feststellung: In der Stadt Neuss erzielte Landrat Hans-Jürgen Petrauschke bei 47.592 abgegebenen gültigen Stimmen 26.613 Stimmen = 55,9 %, während sein Herausforderer Hans Christian Markert von den Grünen auf 19.515 Stimmen = 41,0 % kam. Die SPD stellte hier keinen eigenen Kandidaten, was auch einiges über die tatsächliche politische Potenz dieser Partei in Neuss und seinem Umland aussagt.

Ausgehend von der Tatsache, dass es sich — im Übrigen vom Gesetzgeber ausdrücklich so gewollt — bei den Landrats- und Bürgermeisterwahlen diesen Jahres um reine Persönlichkeitswahlen gehandelt hat sowie angesichts der landesweiten Einzelergebnisse lassen sich folgende, für ganz Nordrhein-Westfalen gültige Feststellungen treffen:

Vielerorts herrschte eine ausgeprägte Wechselstimmung, welche es den jeweiligen Amtsinhabern erschwerte, ihren Amtsbonus erfolgreich zu nutzen und sich eine Wiederwahl zu sichern, insbesondere, wenn sie zehn Jahre oder länger amtiert hatten.

Beinahe überall dort, wo ältere Kandidaten gleich welchen Geschlechts gegen beträchtlich jüngere Mitbewerber angetreten sind, haben sich die jüngeren durchgesetzt.

Regelrechte "Erbhöfe" für die beiden Volksparteien werden auch in Nordrhein-Westfalen immer seltener. Dies gilt für die Sozialdemokraten im Ruhrgebiet ebenso wie für die CDU im eher ländlichen Raum, vor allem am Niederrhein und im Bergischen Land.

Insofern liegt Neuss also ganz im "Landestrend". Dennoch birgt das Neusser Wahlergebnis eine Reihe von Besonderheiten, die ein näheres Hinschauen erforderlich machen.

2. Längerfristige Trends

In den Medien war unmittelbar nach dem Wahltag zu lesen, die Schlappe der CDU bei der Bürgermeisterwahl sei nur eine weitere in einer ununterbrochenen Kette von schweren Niederlagen, welche die Neusser CDU seit der Jahrtausendwende und speziell in der Amtszeit des Parteivorsitzenden Jörg Geerlings erlitten habe. Diese Feststellung ist richtig und falsch zugleich.

Sie ist falsch, weil sich die Einzelergebnisse zum einen nicht einfach an den Personen der Parteivorsitzenden festmachen lassen noch eine eindeutige Richtung erkennen lassen. Vielmehr verläuft die Linie der CDU-Resultate insgesamt ausgesprochen kurvenreich mit erheblichen Ausschlägen nach oben wie nach unten.

So folgte auf die eindrucksvollen Siege bei den Bürgermeister- und Ratswahlen 1999 (58,3 % bzw. 56,6 %) ein Einbruch bei der Landtagswahl 2000 (43,4 %) bzw. der Bundestagswahl 2002 (42,0 %), um 2004 wieder auf rekordverdächtige 66,2 % bei der Bürgermeisterwahl und 50,8 % bei der Ratswahl anzusteigen, gefolgt von immerhin 52,1 % bei der Landtagswahl 2005. Die Neusser Wähler haben also bereits damals erheblich zwischen den einzelnen Wahlarten differenziert und sind auch den jeweils vorherrschenden Meinungsbildern im Bund wie im Land gefolgt.

Wie sehr dies zutrifft, macht ein Blick auf die Jahre 2012 und 2013 deutlich: Bei der vorgezogenen Landtagswahl vom 13. Mai 2012 stürzte die CDU in Neuss zwar von 39,7 % auf 30,1 % ab, doch bewegte sich dieser zweifellos dramatische Verlust im Rahmen des Landesdurchschnitts (— 8,3 %). Der Kandidat Jörg Geerlings wurde zum Opfer eines unglücklich agierenden CDU-Spitzenkandidaten sowie eines völlig missglückten Landtagswahlkampfes der Landespartei und teilte am Ende das Schicksal vieler CDU-Kollegen im ganzen Land, die in vermeintlichen Hochburgen ebenfalls ihr Direktmandat verloren.

Umgekehrt die Situation bei der Bundestagswahl im Jahr darauf. Nach einer spürbaren Konsolidierung der Landespartei und natürlich dank der überragenden Popularität der Bundeskanzlerin fuhr die Neusser CDU unter Führung ihres Bundestagskandidaten Hermann Gröhe wieder einen überzeugenden Wahlsieg mit immerhin 45,5 % ein. Allerdings ist bei diesen Wahlen auch immer die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung zu berücksichtigen, die zwischen 70,7 % bei der Bundestagswahl 2013 und lediglich 57,3 % bei der Landtagswahl 2010 gelegen hat. Je höher die Wahlbeteiligung in Neuss ausfällt, desto eher gelingt es auch der CDU, ihr hiesiges Wählerpotential auszuschöpfen.

Bei allen zu beobachtenden Schwankungen in den Einzelergebnissen ist dennoch ein gewisser Substanzverlust der Neusser Christdemokraten in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten tatsächlich unverkennbar. Dieser Substanzverlust ist typisch für jahrzehntelange politische Monokulturen, wie sie etwa am "schwarzen" Niederrhein oder im "roten" Ruhrgebiet anzutreffen sind. Besagte Monokulturen sind besonders anfällig für allgemeine gesellschaftliche Veränderungsprozesse, aber auch für die Folgen von politischem Inzest sowie einer spezifischen Form horizontal ausgeprägter Machtstrukturen, politikwissenschaftlich "Schattenpolitik" oder in einer südlich von Neuss gelegenen rheinischen Metropole auch gerne "Klüngel" genannt.

Klüngel ist weder immer schädlich noch per se kriminell. Aber Klüngel entsteht dort, wo die politischen Fäden bei einigen wenigen einflussreichen Personen bzw. Gruppen zusammenlaufen, wo sich innere Zirkel bilden, in denen Macht, Einfluss und lukrative Posten möglichst intransparent verteilt werden, wo Beziehungen nicht selten Befähigungen ersetzen und es Außenstehenden oft schwer gemacht wird, in wichtige Ämter zu gelangen.

Die Neusser CDU insgesamt ist weder ein einziger großer Klüngelverein noch korrupt. Aber nach siebzig Jahren ununterbrochener Verantwortung in und für diese Stadt wirkt sie dennoch unverkennbar ausgezehrt, ermüdet, abgenutzt, ja sich selbst teilweise überdrüssig. Sklerotische Prozesse und die mit diesen unvermeidlichen Klüngelphänomene wie Ignoranz, Bequemlichkeit und Arroganz schrecken eher ab als zur Mitarbeit zu motivieren. Seit der Wiedervereinigung hat die Neusser Union mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Das ist mehr als bei Bundes- und Landespartei und übersteigt auch den durchschnittlichen Mitgliederverlust anderer vergleichbarer Stadtverbände. Dabei sind es weniger politisch motivierte Austritte, die zu diesem Verlust geführt haben, als vielmehr die Sterbefälle, welche durch Neueintritte nicht annähernd kompensiert werden können.

Je weniger Mitglieder eine Partei aber hat, desto weniger Gestaltungskraft besitzt sie.

Die Kandidatendecke für Vorstände und Parlamente wird quantitativ aber auch qualitativ immer dünner und damit schwindet auch die Fähigkeit, eine einmal erlangte strukturelle Dominanz in der Stadtgesellschaft auf Dauer abzusichern bzw. politisch immer wieder neu zu begründen. Eine Partei, die ein Mitgliederproblem aufweist, wird auch für die Wähler zunehmend unattraktiv. Auf die Gemeindeebene bezogen wendet sich der Neusser Wahlbürger daher immer stärker vom politischen Geschehen ab, weil es auch den politischen Mitbewerbern nicht besser oder mitunter sogar noch schlechter ergeht und er, genau wie immer mehr Wahlberechtigte in ganz Deutschland, die Parteien als politische Dienstleister begreift, denen gegenüber er keine persönliche Bringschuld in Gestalt eigener Mitarbeit oder wenigstens der Ausübung des Wahlrechts verspürt. Oder er nutzt Personenwahlen wie diese, welche eventuell noch vorhandene engere Parteibindungen wie auch übergeordnete politische Interessen in den Hintergrund treten lassen, um sein Missfallen auszudrücken verbunden mit dem Wunsch nach Veränderungen.

Unbezweifelbar hat die Mehrzahl der Neusser, die überhaupt noch zum Wahlakt zu mobilisieren gewesen sind, in der Person von Reiner Breuer unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit eine geeignete Alternative erblickt, um die überkommenen Verhältnisse in ihrer Stadt in welche Richtung auch immer zu verändern und einen Neuanfang herbeizuführen.

3. Unterschiede zwischen Landrats- und Bürgermeisterwahl

Viele Beobachter haben sich die Frage gestellt, weshalb in ein und derselben Stadt der eine CDU-Kandidat — Hans-Jürgen Petrauschke — 56 % der Stimmen erhält und der andere CDU-Kandidat — Thomas Nickel — gleichzeitig fast zwanzig Prozentpunkte weniger. Gelten beide Männer doch als etablierte Politiker mit praktischer Verwaltungserfahrung und einem wertekonservativen, christlichen Hintergrund.

Die Antwort liegt in der bereits angesprochenen Differenzierungsfähigkeit der Wähler. Sie schätzen den Zustand der CDU-Kreispartei offenbar anders ein als denjenigen des Stadtverbandes. Auch spielte das Alter bei Hans-Jürgen Petrauschke keine Rolle, ebenso wenig wie die Dauer seiner Amtszeit. Petrauschke ist erst seit 2009 Landrat, wirkt daher noch relativ frisch und unverbraucht. Auch war er im gesamten Kreis präsent und stets auf Volksnähe bedacht. Er vertrat, nicht zuletzt gegenüber der Stadt Neuss und ihrem Bürgermeister, die Interessen des Kreises, ohne unnötig zu polemisieren und damit zu polarisieren. Kurz: Er vermochte seinen Amtsbonus zur vollen Entfaltung zu bringen, wobei ihm überdies zugute kam, dass sein Herausforderer von einem politisch äußerst heterogenen und deshalb instabilen Bündnis getragen wurde und besonders energiepolitisch nicht zu überzeugen vermochte.

Abgesehen von diesen persönlichen Komponenten kommt noch der wichtige Umstand hinzu, dass für viele Wähler die Kreisebene bereits zu abstrakt ist, um im Vergleich mit der Kommune ihre tatsächliche politische Relevanz beschreiben zu können. Diese größere Distanz führt automatisch dazu, sich bei der Wahl neben der Person verstärkt auch an deren Parteizugehörigkeit zu orientieren. Jene Orientierung geriet Hans-Jürgen Petrauschke aber offenbar zum Vorteil, weil das Image der Kreispartei wie auch längerfristige Bindungen der Wähler auf Landes- und Bundesebene positiv zum Erscheinungsbild der Neusser Stadtpartei kontrastieren.

Demgegenüber stand Thomas Nickel sozusagen symbolisch für das "alte" Neuss und die "alte" Neusser CDU. Anders als Petrauschke verfügte Nickel auch über keinen eigenen Amtsbonus, dafür aber über einen ausgeprochenen Amtsmalus, wurde er doch als Stellvertreter und persönlicher Freund des Amtsinhabers in Mithaftung genommen für dessen Erscheinungsbild und politische Bilanz. Vor allem aber wurde Thomas Nickel im Wahlkampf sein Alter zum Verhängnis.

4. Die Kandidatenaufstellung

Die ganze politische Schwäche der Neusser CDU schien schlaglichtartig auf in der Mitgliederversammlung zur Kandidatenaufstellung Anfang November 2014 im Foyer des Landestheaters. Trotz einer beeindruckenden Teilnehmerzahl kam keine echte Aufbruchstimmung auf. Das lag hauptsächlich an den persönlich und/oder politisch nicht überzeugenden Vorstellungen sämtlicher Bewerber. Am Ende setzte sich mit Thomas Nickel der Kandidat durch, der die wenigstens Fehler gemacht hatte, der am routiniersten auftrat und der über die tragfähigsten flächendeckenden Unterstützerkreise verfügte. Vielen Mitgliedern, auch Nickel-Wählern, war bereits an diesem Nominierungsabend klar, dass das Alter des Kandidaten eine kaum zu überwindende kommunikative, aber auch argumentative Hürde im bevorstehenden Bürgermeisterwahlkampf sein würde. Einen 68-Jährigen zum Nachfolger eines 68- Jährigen zu proklamieren, wird von den Wählern kaum als Zeichen des Aufbruchs und der Erneuerung verstanden sondern eher als Ausdruck von Kontinuität, oder weniger freundlich ausgedrückt als Symbol des Stillstandes. Ein einfaches "Weiter so" aber war das Letzte, was sich die Mehrheit der Neusser nach 17 Jahren Herbert Napp gewünscht haben. Im Kontrast zu Thomas Nickel avancierte der 46-jährige, durchaus "bürgerliche" Reiner Breuer ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit sozusagen zum Sinnbild für Dynamik und Erneuerung, ohne im Detail mit seinem politischen Programm überzeugen zu müssen.

Es stellt ein vielsagendes Versäumnis des gesamten Parteivorstandes dar, im Vorfeld der Kandidatenaufstellung keinen wirklich überzeugenden, auf Konsens stoßenden Bürgermeisterbewerber aus den eigenen Reihen präsentieren zu können.

Fragen muss sich insbesondere der Parteivorsitzende, aus welchen vielleicht durchaus triftigen persönlichen Gründen er selbst als vergleichsweise junger und doch politisch erfahrener Politiker vor einer Kandidatur zurückgeschreckt ist. Fragen muss sich aber auch die gesamte Parteiführung, weshalb sie nicht rechtzeitig für klare Verhältnisse gesorgt hat, indem sie geschlossen und entschlossen Jörg Geerlings nominiert hat.

Nicht vorzuwerfen ist dem Parteivorstand und namentlich dem Parteivorsitzenden, den Kandidaten Nickel loyal unterstützt zu haben. Die Parteimitglieder hatten ihren Willen unzweideutig artikuliert, und so waren alle Verantwortlichen gehalten, nach bestem Wissen und Gewissen das Beste aus einer sehr schwierigen Lage zu machen.

5. Wahlkampf

Thomas Nickel äußerte unmittelbar nach seiner Wahlniederlage mehrfach, er habe sich persönlich nichts vorzuwerfen und auch keine Fehler gemacht. Entscheidend sei wohl sein Alter gewesen. Auch andere Vorstandsmitglieder vermochten keine Defizite im Wahlkampf auszumachen und gingen davon aus, im Prinzip alles richtig gemacht zu haben. Das Wahlergebnis war demzufolge nur höherer Gewalt zuzuschreiben.

Solche Erklärungsmuster sind zwar menschlich verständlich, aber dann doch allzu einfach. Richtig ist, dass Thomas Nickel und sein Team unermüdlich gerackert haben. Der Kandidat war überall im Stadtgebiet präsent und ansprechbar. Er stellte sich der Öffentlichkeit wie auch den Mitbewerbern in zahllosen Diskussionen und Interviews. Und er nutzte eifrig die neuen sozialen Medien. Aktiver kann man wohl kaum Wahlkampf führen.

Aber über manche strategische Entscheidung im Wahlkampf muss dennoch gesprochen werden. Wenn wir gerade festgestellt haben, dass Thomas Nickel vor allem mit dem "alten Neuss" identifiziert worden ist, so stellt es einen schwerwiegenden Fehler dar, genau dieses alte Neuss ständig zu beschwören und in seinen Strukturen aufzugehen. Jenes alte Neuss war eine bürgerliche, wirtschaftlich erfolgreiche, überschaubare und stolze rheinische Mittelstadt im Schatten der großen Nachbarn Köln und Düsseldorf. Ihre Einwohnerschaft war traditionsverhaftet, selbstbewusst — insbesondere in ihrem Abgrenzungsbestreben gegenüber Düsseldorf — in Schützenwesen und Vereinen gut organisiert bzw. vernetzt und vor allem katholisch. Genau das ist das Milieu, das Thomas Nickel verkörpert und das er thematisch bedient hat.

Seit dem Zweiten Weltkrieg aber befindet sich Neuss im Wandel. Einem Wandel übrigens, den die CDU maßgeblich geprägt und befördert hat. Neuss ist eine stetig wachsende, dynamische Großstadt geworden mit einer vielfältigen Wirtschaft, ein Verkehrsknotenpunkt und ein herausragender Logistikstandort. Die Stadt zieht mit ihren vielfältigen Standortvorteilen seit Jahrzehnten unzählige Neubürger, vor allem aus dem Raum Düsseldorf an, und bietet selbst zahlreiche gutbezahlte Arbeitsplätze.

Allein in den 25 Jahren zwischen 1989 und 2014 wuchs ihre Einwohnerzahl um 10.000 von 146.000 auf über 156.000 Bürgerinnen und Bürger. Im Zehnjahresvergleich lag das Plus immer noch bei überdurchschnittlichen 1,1 % oder 1.708 Neubürgern. Den Löwenanteil des Einwohnerzugewinns teilen sich übrigens die Grenzbezirke im Norden und im Süden der Stadt Neuss. Zwischen 1999 und 2014 stieg die Einwohnerzahl der gesamten Neusser Furth (also die Bezirke Süd, Mitte und Nord zusammengenommen) um 1.631 Personen von 20.279 auf 21.910.

Der Stadtbezirk Rosellen wuchs, vor allem dank des Neubaugebietes Allerheiligen, sogar um 3.721 Einwohner von 10.270 auf 13.991 und ist seit Jahren der einwohnerstärkste Stadtbezirk überhaupt.

Weisen diese Zahlen schon eine bemerkenswerte Wachstumsdynamik auf, so wird die Veränderung der gesamten Einwohnerschaft besonders an dem Umstand deutlich, dass sich seit dem Jahr 2000 ein jährlicher Bevölkerungsaustausch in Höhe von 13.000 bis 15.000 Personen vollzieht, im Saldo zwischen Zu- und Fortzügen mit einem kontinuierlichen Plus bei den Zuzügen. Den höchsten jährlichen Austausch verzeichnen mit bis zu 1.500 Fort- und Zuzügen der Bezirk Innenstadt sowie die Furth; gefolgt von Rosellen mit knapp 1.000.

Derlei Prozesse wirken sich natürlich auch auf die soziologische Bevölkerungsstruktur aus. Nehmen wir als wichtigsten Indikator die Konfessionszugehörigkeit: Waren 1999 noch 53 % der Neusser katholisch, so sank dieser Anteil bis heute um 9 Prozent auf 43,9 %. Die Vergleichswerte auf der Furth: Rückgang von 52,3 % auf 40,8 %, was einem Minus von 11,5 % entspricht. In Rosellen nahm der Katholikenanteil um 9,4 % von 53,0 % auf 43,6 % ab, in Erfttal um 10,8 % von 45,2 % auf 34,4 %. Dagegen stieg der Anteil der Nicht-Christen und Konfessionslosen im gesamten Stadtgebiet von 26,6 % auf 38,7 %, in Furth-Süd von 33,5 % auf 50,9 %, in Erfttal von 35,8 % auf 49,3 % und in Rosellen von 22,9 % auf 36,2 %.

Anm. der Stadt-Kurier-Red.: Zahlen müssen genau geprüft werden.

Diese Zahlen legen den Schluss nahe, dass Neuss nicht nur weniger katholisch geworden ist, sondern generell weniger christlich. Das mag man beklagen oder nicht, zu ändern ist dies von der Politik weder kurz- noch langfristig. Es wäre jedoch zu überlegen, ob das Profil der stärksten politischen Partei in der Stadt nicht insgesamtoffener und bunter werden müsste, ohne die eigenen christlichen Wurzeln undGrundwerte über Bord zu werfen. Jedenfalls reicht es für das Erzielen vonMehrheiten nicht mehr aus, als Partei im Schützen- und katholischen Verbandslebenintegriert zu sein oder mit dem Kreuz in der Hand gegen eine drohende islamischeUnterwanderung vorzugehen. Diesen Fehler hat Thomas Nickel auch nicht gemacht.

Aber die demonstrativ gestreuten Hinweise auf sein Schützenamt, seine Tätigkeit alsDiözesanrat im Erzbistum Köln und die christliche Fundierung seines politischen Wirkens in dezidiert katholischer Gestalt haben eher abgrenzend als integrierend gewirkt und jedenfalls mehr Wähler aus den neuen städtischen Milieus von einer Wahl abgehalten als diejenigen aus der angestammten Anhängerschaft zu einer Stimmabgabe pro Nickel und CDU zu animieren.

Des weiteren war es nicht sonderlich klug, im Wahlkampf ausgerechnet in einer Stadt, die auf's engste auf ihre Nähe zum prosperierenden Wirtschaftsstandort Düsseldorf angewiesen ist und von dieser Nähe profitiert, einen strikten Abgrenzungskurs zur Landeshauptstadt zu fahren und stattdessen strategische Partnerschaften mit den Städten des linken Niederrheins wie Mönchengladbach und Krefeld zu proklamieren, die eher wirtschaftliche Problemfälle als verlockende ökonomische Leuchttürme verkörpern. Mit den Befürchtungen und Ressentiments gegenüber Düsseldorf, ob sie nun begründet sein mögen oder nicht, spreche ich vielleicht die Gemütslage vieler Alt-Neusser an, aber nicht die Interessen der tausenden Neubürger aus dieser Region bzw. der Berufspendler, die täglich nach Düsseldorf zur Arbeit fahren. Da erscheint ein Kandidat, der die Eigenständigkeit von Neuss mit einer engeren Kooperation mit Düsseldorf verbinden will, der den "kurzen Draht" zwischen Düsseldorfer und Neusser Rathaus verspricht und der etwas für den stiefmütterlich behandelten ÖPNV zwischen beiden Städten zu tun beabsichtigt als die modernere, vor allem als die — und das ist hier wörtlich zu nehmen — vielversprechendere Alternative.

Sicher hätte es auch nicht geschadet, die von der Neusser SPD im Juni 2015 in Auftrag gegebene Umfrage über das Stimmungsbild der Neusser Bürgerinnen und Bürger einmal genauer auszuwerten als sie als bloßes Wahlkampfgetöse abzutun.

Dann hätte man erkennen können, dass eine ganz überwiegende Mehrzahl der Neusser, nämlich mehr als zwei Drittel, der Meinung ist, die einzelnen Stadtteile müssten im Verhältnis zur Innenstadt von der Kommunalpolitik stärker berücksichtigt werden, vor allem, was den Nahverkehr betrifft. Oder dass ein ähnlich hoher Anteil bezweifelt, dass Neuss eine "soziale" Großstadt sei. Oder dass sich viele Befragte über eine zu geringe Kinder- und Familienfreundlichkeit in Neuss beklagen und die Verwaltung für zu wenig bürgerfreundlich halten. Man hätte zudem in Erfahrung bringen können, dass Thomas Nickel über keinen nennenswerten Bekanntheitsvorsprung bei den Neusser Bürgern gegenüber Reiner Breuer verfügt hat und bei den jüngeren Wählergruppen nahezu unbekannt gewesen ist.

Thomas Nickel wurde zweifellos auch mitverantwortlich gemacht für die Bilanz der Ära Napp. Mit ihren positiven wie den negativen Seiten. Da letztere bei einer Wahlniederlage besonders ins Gewicht fallen, seien hier nur einige beispielhaft genannt:

Für den von außen kommenden Neu-Neusser erscheint die Verwaltung extrem unflexibel und mitunter sogar bürgerfeindlich. (Auch Pressefeindlich durch Michael Kloppenburg, Franz Kolbecher und Norbert Jurcyk, Anm. d. Red). Vor allem hat sie sich unter dem Schutz des Bürgermeisters immer stärker als Widerpart zum Rat entpuppt statt als Partner der Politik. Dieses Manko wird verständlicherweise in erster Linie der seit Jahrzehnten dominierenden und die Stadt regierenden Partei sowie ihrem Kandidaten als bisherigen stellvertretenden Bürgermeister angelastet, selbst wenn die stärkste Ratsfraktion nicht selten unter dem Verhalten der Verwaltung unmittelbar zu leiden gehabt hat.

Eine bürgerferne Verwaltung erleben vor allem die wachsenden Stadtbezirke, ganz besonders der Neusser Süden. Die ÖPNV-Anbindung von Rosellen respektive Allerheiligen an die Innenstadt ist absolut unzureichend; Verbesserungen stehen nicht in Aussicht. Die dringend benötigte zweite Grundschule wurde erst im zweiten Anlauf und nach jahrelanger, von Verwaltungsseite maßgeblich verursachter Verzögerung realisiert. Das verspielte Vertrauen der Neubürger konnte so nicht mehr zurückgewonnen werden. Trotz gegenteiliger Versprechungen blieb bisher auch die Verbesserung des Freizeitangebots für Kinder- und Jugendliche in Allerheiligen Makulatur.

!!!!!! Ungeachtet eines anhaltenden allgemeinen Wirtschaftsbooms, steigender Steuereinnahmen, einem günstigen Standort und des Höffner-Deals schafft die Stadt Neuss es bereits seit Jahren kaum, einen ausgeglichenen Haushalt zu präsentieren. Sie lebt ganz offenkundig von der Substanz. Unabhängig von den einzelnen Gründen für diesen Umstand schafft die anhaltend angespannte Haushaltslage wenig Vertrauen in die Wirtschaftskompetenz der CDU, insbesondere bei ihrer bürgerlichen Wählerklientel. !!!!!

Die Haushaltsproblematik führt nicht zuletzt dazu, dass Neuss den Ruf als kinder- und familienfreundliche Stadt weitgehend eingebüßt hat. Die speziellen Angebote für Familien und Kinder bzw. Jugendliche sind dringend ausbaubedürftig, die Kosten etwa für die Kita-Betreuung im landesweiten Vergleich dafür zu hoch.

Schließlich hat Thomas Nickel auch unter dem chronisch schlechten Erscheinungsbild von Fraktion und Partei gelitten. Ständige Wechsel an der Fraktionsspitze, Querelen im Parteivorstand, ein selbstherrlicher Bürgermeister mit den ständig wechselnden Attitüden eines "Vesuvs von Neuss" und eines provinziellen Sonnenkönigs von eigenen und nicht des Bürgers Gnaden, dazu im andauernden Clinch mit der eigenen Partei und Fraktion, gewisse Presseorgane als nicht selten populistische Verlautbarungsorgane der innerparteilichen Opposition — das alles hat sowohl der CDU Neuss wie auch ihrem Kandidaten Thomas Nickel schwer geschadet.

Mit gut 17.000 Stimmen erzielte Thomas Nickel dann auch das absolut gesehen schlechteste Wahlergebnis der Neusser CDU in ihrer gesamten Geschichte. Die Stimmenzahl lag noch unter derjenigen bei der Katastrophen-Landtagswahl von 2012 und deutlich unter derjenigen von Herbert Napp 2009, obwohl Napp bereits einen bis dahin beispiellosen Absturz um mehr als 20 Prozentpunkte hatte verzeichnen müssen und mit 44,9 % ein mehr als bescheidenes Ergebnis einfuhr.

Selbst in seinem Stammbezirk Holzheim verfehlte Nickel die absolute Mehrheit, wenn auch nur knapp. Auffallend ist, dass der Kandidat der CDU nicht nur in für die CDU problematischen Stimmbezirken wie Neusser Furth (25,5 %) oder Allerheiligen (30,9 %) mit zum Teil über 30 % Abstand hinter Reiner Breuer lag, sondern sich auch in den "bürgerlichen" Hochburgen der CDU durchweg Abstände zwischen 7 und 20 Prozentpunkte ergeben haben. Die Niederlage war also absolut und flächendeckend.

6. Fazit

Thomas Nickel hat diese Wahl verloren. Es war eine Persönlichkeitswahl. Aber Thomas Nickel war der gewählte Kandidat der gesamten Partei, nicht nur des Vorstandes oder von wenigen Einzelpersonen. Insofern ist auch die gesamte Partei für das eingetretene Desaster verantwortlich. Und deshalb führen auch persönliche Abrechnungen nicht weiter. Sie vertiefen nur die Zerrissenheit der Partei.

Deren Zustand ist bedenklich. Aber keineswegs hoffnungslos. Wenn die Neusser CDU ihre Niederlage demütig annimmt, wenn sie ihre Geschlossenheit wiederfindet, wenn sie die Zeichen einer sich wandelnden Großstadtgesellschaft erkennt und entsprechende moderne Formate bzw. Ideen entwickelt, wenn sie wieder den vorpolitischen Raum besetzt und neue Formen des Bürgerdialogs wagt, dann kann ihr der Aufbruch in bessere Zeiten gelingen. Personalfragen sind da zweitrangig. Die stolze Neusser CDU hat für diesen Aufbruch genügend Potential, Kreativität und Persönlichkeiten. Sie verfügt über eine Unmenge an Erfahrung. Und über die richtigen programmatischen Grundwerte, die wieder zu Leitsternen der Kommunalpolitik werden müssen. Aber um andere begeistern zu können, müssen die Mitglieder zunächst einmal wieder von ihrer Partei begeistert sein. Das ist die vorrangige Aufgabe der Parteiführung. Scherbengerichte führen hier nicht weiter.

Noch ist Neuss nicht verloren. Der Tiefpunkt der Bürgermeisterwahl kann ein Wendepunkt sein. Wenn er zu einer Mentalität der Offenheit, der Entschlossenheit und der Solidarität führt. Aber auch nur dann!

Ich danke Ihnen für Ihre geduldige Aufmerksamkeit!

Dr. Guido Hitze