Türkei im Ausnahmezustand: So erlebten Hakan Temel und Yasar Calik den Putsch

Neuss · Es war die Schreckensmeldung im Sommer: Putschversuch in der Türkei, rund 300 Tote, ein Land im Ausnahmezustand. Die Neusser Lokalpolitiker Hakan Temel (SPD) und Yasar Calik (CDU) erlebten das Geschehen von Deutschland aus, waren nach den Gewalttaten wieder in der Türkei.

Foto: Violetta Buciak

Wie sie die Stimmung erlebt haben und wie sie über die Ereignisse denken, verrieten sie dem Stadt-Kurier im Interview.

Der Putschversuch ist Mitte Juli passiert, wir haben jetzt ein bisschen Abstand zu den Geschehnissen gewinnen können. Wie haben Sie von den Ereignissen erfahren?
Hakan Temel: Wie viele andere auch habe ich zunächst über die Medien gehört, was passiert ist. Was mir Sorge bereitete war mein Onkel, der von einer Geschäftsreise nach Istanbul zurückreiste und sich genau zu dem Zeitpunkt mitten im Geschehen befand.
Yasar Calik: Mir ging es ähnlich. Meine Schwester steckte mit ihrem Auto zwei Kilometer vor der belagerten Brücke fest. Telefonisch hat sie mir sofort von der Sache berichtet — im Hintergrund war Lärm zu hören. In dieser Nacht war ich bis 4 Uhr wach. Erst als es langsam Entwarnung gab, konnte ich schlafen.

Wie haben Sie die Stimmung zu dem Zeitpunkt wahrgenommen? Was ging in Ihren Verwandten vor?
Hakan Temel: Mein Onkel war sehr betroffen. Darüber, dass so viel Gewalt und Chaos herrschte und dass es wiederholt einen Putschversuch in der Türkei gab.
Yasar Calik: Das kann ich unterschreiben. Die Menschen haben genug davon, sie wollen diese Gewalt nicht mehr.

Seitdem die Vorkommnisse stattgefunden haben, waren Sie beide jeweils bei Ihren Familien in der Türkei. Was hat sich nach dem Putschversuch verändert?
Hakan Temel: Äußerlich hat sich in meinem Umfeld kaum etwas geändert. Jeder geht wie vorher seinem Alltag nach.
Yasar Calik: Man hat in Hotels nicht mehr so lange Warteschlangen (lacht). Ansonsten habe ich auch keine Unterschiede zu vorherigen Reisen wahrgenommen.

Wie stehen Sie zu dem, was in der Türkei passiert ist?
Hakan Temel: Ganz klar, ich verurteile den Putschversuch — das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass ich Erdogan gutheiße. Im Übrigen geht es vielen Türken so. Der Putsch war ein Angriff auf die Demokratie, das kann man nicht gut heißen.
Yasar Calik: Ein Putschversuch darf nicht passieren. Das ist für jedes Land eine Katastrophe.
Nun gibt es viele Stimmen, die Fettulah Gülen für den Putschversuch verantwortlich machen. Was halten Sie davon und wie stehen Sie zur Gülen-Bewegung?
Hakan Temel: Das ist ganz schwer einzuschätzen. Wir kennen die entscheidenden Vorgänge im Hintergrund nicht und haben von hier aus nicht genügend Einblick, um uns eine Meinung zu bilden. Generell distanziere ich mich von jeder politisch und religiösen extremen Bewegung. Ich will neutral bleiben.

In den deutschen Medien wurde Erdogan für die Handlungen nach dem Putsch teilweise scharf kritisiert. Es ging um viele Festnahmen, Reiseverbot für Akademiker, Einschränkung der Pressefreiheit und mehr. Wie stehen Sie dazu?
Hakan Temel: Auch das ist eine Sache, die sehr schwer zu beurteilen ist. Schließlich lebe ich nicht in dem Land und weiß nicht genau was dort passiert. In den deutschen Medien wird leider auch nicht aufgegriffen, was weiter passiert ist. Es soll inzwischen wieder viele Freilassungen gegeben haben, Gerichtsverfahren werden eingeleitet. Ich bin guter Dinge, dass alles geordnete Wege gehen wird.
Yasar Calik: Frankreich befindet sich immerhin seit fast einem Jahr im Ausnahmezustand. Nach der Gewalt, die in der Türkei stattgefunden hat, ist es legitim, dass bestimmte Maßnahmen ergriffen wurden.

Nochmal: In den Medien wird darüber spekuliert, dass Erdogan den Weg in die Diktatur ebnet.
Hakan Temel: Es ist auch richtig, ein kritisches Auge darauf zu haben. Unter Partnern ist so etwas sehr wichtig. Viel wichtiger aber ist es, die Gemeinsamkeiten und das Positive zu sehen. Es ist sehr wichtig, dass die Bundesregierung und die Türkei im Gespräch bleiben. Das macht die Bundesregierung sehr gut.
Yasar Calik: In der Türkei gibt es aktuell auch viele andere Baustellen. Beispielsweise die Asylproblematik, es geht hier um drei Millionen Flüchtlinge.

Glauben Sie, dass es jetzt noch einen Weg in die EU gibt?
Yasar Calik:
Klarheit wäre hier wichtig. Natürlich müssen bestimmte Richtlinien eingehalten werden. Mich ärgert es auf der anderen Seite, dass Länder wie Bulgarien so schnell aufgenommen wurden — bis vor kurzem herrschte dort noch eine Diktatur. Ich möchte Sicherheit, aber — in der Politik ist es so wie beim einem Schachspiel.
Hakan Temel: Ich hoffe, das ist nicht der Fall. Das wäre der völlig falsche Weg. Allein so moralische Gegebenheiten wie die Flüchtlingssituation verbieten es, aus der Politik ein Spiel zu machen. Dann würde ich stark an meinem politischen Tun zweifeln. Persönlichkeiten wie unser Außenminister Steinmeier oder Bundeskanzlerin Merkel, die mit Herzblut dabei sind, geben mir das Gefühl, dass ich das richtige mache und bestätigen mich.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sie klar gegen den Putschversuch sind. Bei den anderen Themen halten Sie sich eher bedeckt.
Yasar Calik: Ich bin eben Neusser, ich bin hier aufgewachsen, ich denke deutsch. Ich kann nicht über ein Land sprechen, in dem ich nicht lebe...
Hakan Temel: Was heißt deutsch denken? Ich glaube, dass es hierauf nicht ankommt. Der Mensch sollte im Vordergrund stehen. Ich denke allenfalls neusserisch.
Yasar Calik: Ich will es erklären. Ausländer, darunter auch Türken, sind oft flexibler was die Uhrzeit betrifft, wogegen die Deutschen meist auf die Minute pünktlich sind. Es ist eben nicht von der Hand zu weisen, dass es gewisse Unterschiede gibt.

Man merkt, in dem Punkt sind Sie sich offenbar uneinig...
Hakan Temel: Das kann man wohl sagen. Das ist überhaupt nicht mein Thema. Natürlich identifiziere ich mich zu 100 Prozent mit meiner Stadt und auch mit der Türkei. Aber wer sagt denn nun, was deutsches Denken heißt? Das geht ja schon in die Philosophie. Dieser Ansatz bringt Gesellschaft nicht voran. Worin ich allerdings übereinstimme, ist die Tatsache, dass wir die Gegebenheiten in der Türkei schlecht beurteilen können. Dafür sind wir einfach zu weit weg

Danke für das Gespräch!

Das Interview führten Violetta Buciak, Rolf Retzlaff und Thomas Broich