Es geht um 140 Millionen Euro +++ 67 Beschuldigte, darunter zwei Neusser Razzia bei Mega-Geldwäsche-Netzwerk
Neuss/Kaarst/Düsseldorf · Mittwochmorgen, 4 Uhr: Im Schutz der Dunkelheit stürmen insgesamt 1.500 Einsatzkräfte zeitgleich 85 Häuser, Wohnungen, Büros und Geschäftsobjekte in zahlreichen Städten – darunter auch Neuss. Der gemeinsame Einsatz der Polizei Düsseldorf, der Staatsanwaltschaft und der Steuerfahndung war ein voller Erfolg: Nach einem Jahr Ermittlungsarbeit gelang den Beamten ein empfindlicher Schlag gegen ein international agierendes sogenanntes Hawala-Netzwerk, elf Haftbefehle konnten vollstreckt und Bargeld und Vermögenswerte in Höhe von etwa 4,5 Millionen Euro sicher gestellt werden.
Insgesamt richten sich die Ermittlungen der Zentral- und Ansprechstelle für die Verfolgung Organisierter Straftaten in Nordrhein-Westfalen (ZeOS NRW), die vor rund einem Jahr starteten, gegen 67 Beschuldigte zwischen 18 und 67 Jahren. Im Fokus: die sogenannten „Groß-Hawaladare“, ein 42-Jähriger aus Düsseldorf und ein 44-Jähriger aus Mönchengladbach.
Sie sind dringend verdächtig, ein sogenanntes „Hawala-System“ betrieben und so einer Vielzahl von Kunden die Möglichkeit geboten zu haben, gegen Zahlung einer Provision Geldüberweisungen außerhalb des staatlich genehmigten Banken- und Finanzwesens – insbesondere von Deutschland und den Niederlanden nach Syrien sowie in die Türkei – vorzunehmen.
Das auf diese Art und Weise bewegte Transaktionsvolumen betrug nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen für den Zeitraum seit August 2016 insgesamt rund 140 Millionen Euro. Aufgabe der beiden Hauptbeschuldigten war es, Bargeld in deutschen und niederländischen „Zahlungsbüros“ einzusammeln und den Ausgleich der Bargeldbestände in den türkischen und syrischen „Zahlungsbüros“ zu gewährleisten.
Nach bisherigen Erkenntnissen stammt zumindest ein Teil der eingesammelten und transferierten Gelder aus Straftaten. Viel Geld aus den Zahlungsbüros werde auch für weitere Straftaten zur Verfügung gestellt. Es werde darüber hinaus vermutet, dass ein Teil des Geldes aus dem Hawala-Netzwerk zur Terrorfinanzierung verwendet worden sei.
Der Ausgleich der Bargeldbestände in den deutschen und niederländischen Zahlungsbüros auf der einen Seite und in den Zahlungsbüros in der Türkei und in Syrien auf der anderen erfolgt unter anderem durch den Transfer von Geld für sogenannte Rückwärtskunden. Einer davon steht im Verdacht, täglich bis zu 75 gestohlene Katalysatoren aus NRW und angrenzenden Bundesländern angekauft zu haben. Hierfür erhielt er von einem der Hauptbeschuldigten etwa 35.000 Euro Bargeld pro Tag.
Außerdem seien die Bestände durch den „Ankauf von Rechnungen“ ausgeglichen worden: Mit dem Bargeld sollen Rechnungen von Firmen aus aller Welt für Warenlieferungen in den Nahen Osten bezahlt worden sein. Die Begleichung der Rechnungen erfolgte über Drittfirmen in Deutschland, auf deren Konten das Bargeld eingezahlt wurde. Die auf diese Weise bezahlten Rechnungen würden auch von „Big Playern“ stammen: „Zum Beispiel großen Automobilherstellern aus Deutschland“, weiß Staatsanwalt Hendrik Timmer.
Ein Großteil der Beschuldigten sei ferner verdächtig, zu Unrecht Sozialleistungen bezogen zu haben, ihren sozialversicherungsrechtlichen und steuerlichen Pflichten nicht nachgekommen zu sein und sich bei der Verschleierung dessen gegenseitig unterstützt zu haben.
Auf die Spur gekommen waren die Ermittler dem Netzwerk durch Zufall: So fanden Beamte der Autobahnpolizei beispielsweise im Mai 2020 nach einer Verkehrsunfallflucht im mutmaßlichen Verursacher-Fahrzeug 300.000 Euro in bar, das aus den Niederlanden nach Deutschland gebracht wurde.
Die Ermittlungen deckten das weitverzweigte Hawala-Netzwerk auf. Der leitende Kriminaldirektor Frank Kubicki berichtet: „Wir konnten elf Haftbefehle vollstrecken, siebenstellige Bargeldbestände und weitere erhebliche Vermögenswerte beschlagnahmen, darunter hochwertige Fahrzeuge, Schmuck, 160 Katalysatoren, Waffen und eine Stereoanlage im Wert von 100.000 bis 150.000 Euro.“
Darüber hinaus seien im Rahmen der Maßnahme in Vollziehung von zehn Vermögensarresten unter anderem die Eintragung einer Sicherungshypothek für ein Grundstück veranlasst sowie 14 Konten gepfändet.
Auch Spezialeinheiten, Einsatzhundertschaften sowie Drogen- und Geldspürhunde waren an der großangelegten Razzia beteiligt. 44 der Beschuldigten seien syrischer Abstammung, viele davon sollen 2015 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sein. Außerdem unter den Verdächtigen: zwei islamistische Gefährder sowie zwei weitere Personen, die dem islamistischen Spektrum zugeordnet werden können.
„Ein 39-Jähriger, den wir ebenfalls festgenommen haben, fungierte als sogenannter Friedensrichter, um Streitigkeiten innerhalb des Netzwerks zu klären“, erklärt Staatsanwalt Hendrik Timmer – und zwar unter anderem mit harter Gewalt. In einem von den Ermittlern abgehörten Telefonat sei gesagt worden, wer dem Netzwerk heimlich Geld vorenthalte, würde beim ersten Mal verprügelt, beim zweiten Mal verstümmelt und beim dritten Mal getötet werden. Im Laufe des Verfahrens habe sich daher gegen einzelne Beschuldigte auch der Verdacht des besonders schweren Raubes, der Geiselnahme, der gefährlichen Körperverletzung und der Nötigung ergeben. Der 39-Jährige hatte zuvor in Syrien einen Kampftrupp angeführt.
Insgesamt ermitteln die Behörden wegen zahlreicher Straftatbestände, darunter Verdacht der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Geldwäsche, Verstößen gegen das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz, Steuerhinterziehung, Sozialleistungsbetrug und vieler mehr.
Die Durchsuchungen fanden in Bergisch Gladbach, Bochum, Bottrop, Bremerhaven, Castrop-Rauxel, Dortmund, Düsseldorf, Erkelenz, Essen, Geilenkirchen, Gelsenkirchen, Hannover, Heinsberg, Hückelhoven, Kaarst, Köln, Krefeld, Mönchengladbach, Neuss, Olfen, Remscheid, Schwerte, Viersen und Wuppertal statt.
Die Wohnung und Geschäftsräume eines Neussers, der eine Spedition in Kaarst betreibt, wurden ebenfalls durchsucht. Er soll als Drittfirma Geld über Fremdgeldkonten transferiert und dafür Provision kassiert haben. Ein weiterer Neusser wurde überprüft, weil er in dem Geschäft, in dem er arbeitete, ein Zahlungsbüro betrieben haben soll. Festgenommen wurden die Beiden nicht.