Die Säckeschlepper vom Hafen hatten den härtesten Job: eine Geschichte aus dem wahren Leben
Neuss · Es ist ein Zufall, wie man ihn sonst eher aus Hollywoodproduktionen vermuten würde – aber er passierte im wahren Leben, mitten in Neuss. Verena Derichs, Anwältin, arbeitet seit circa einem Jahr im vierten Stock des neuen Hafengebäudes.
Was sie erst später durch ihre Tante aus Australien herausfand: Genau hier arbeitete vor rund 80 Jahren auch ihr Großvater Martin Leonard Röhlen als Erftkadett.
An der Hammer Landstraße, direkt gegenüber vom Wendersplatz, steht das Denkmal, das für viele so selbstverständlich geworden ist, dass sie achtlos dran vorbeigehen. Es wurde den Erftkadetten gewidmet und zeigt einen Mann mit schwerem Sack auf der Schulter. Nach rheinischer Art steht der Arbeiter trotz der Last aufrecht, auf seinen Lippen ein leichtes Lächeln. Ganz so entspannt wie die Bronzestatur es vermuten lässt, war die Arbeit der Erftkadetten aber nicht. Ganz im Gegenteil. Urenkelin Verena Derichs informierte sich über das bewegte Leben ihres Urgroßvaters. Martin Leonard Röhlen war Uhrmacher, lebte mit seiner Frau Therese und den sechs Kindern in Neuss. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, stand es schlecht um die Familie. „Es waren nicht die Zeiten, in denen Menschen sich neue Uhren machen ließen“, fasst Derichs zusammen. Schließlich zwang Ehefrau Therese ihren Mann dazu, etwas „Richtiges“ zu machen, das mehr Geld in die Haushaltskasse brachte. Laut Erzählungen schmiss sie den Arbeitstisch in seinem Laden um, sodass alle Werkzeuge und winzigste Teilchen im Staub auf dem Boden landeten. Da war Leonard 43 Jahre alt. Es war die Not, die ihn und seine Kollegen in diese Arbeit trieben. Dort am Hafen erwartete sie ein körperlich harter Job. Egal ob bei Wind oder Regen, Kälte oder Hitze, die Arbeiter schleppten die etwa 20 Kilogramm schwere Last auf ihren Rücken – hauptsächlich gefüllt mit Saatgut für die Ölmühlen, aber auch mit Holzkohle, Brettern und anderen Dingen. Die Männer mussten eine gute Kondition haben, um diese Arbeit zu überstehen und durften nicht krank werden. Etwa 18 Jahre lang hielt Martin Leonhard diese Tortur durch. Währenddessen pflegte Therese daheim in Reuschenberg, Lupinenstraße, den eigenen Garten, sodass alle immer genug zu essen hatten. Leonhard wurde immer als angenehme, stiller Mann beschrieben, der stets ein Lächeln auf den Lippen hatte. Dennoch durften ihn seine Enkel nie auf seinen gebeugten Gang ansprechen, den er nach der jahrelangen Säckeschlepperei bekommen hatte. Als Erinnerung an ihren Urgroßvater hat Verena Derichs ein großes Bild von ihm als Erftkadett im Büro hängen. Wenn sie aus ihrem Fenster blickt, schaut sie auf seinen ehemaligen Arbeitsplatz.