Befragung regionaler Unternehmen: Mittelstandsbarometer zeigt auf „Post-Corona-Konjunkturboom“ – ein Rekordhoch
Neuss/Kaarst · Angesichts der Zahlen musste sich Dr. Rainer Bovelet von der „Konjunkturforschung Regional“ „erst einmal die Augen reiben“: Das Mittelstandsbarometer, eine Umfrage zur konjunkturellen Lage des Mittelstands im Rhein-Kreis Neuss, fiel derart positiv aus, dass eine Nachuntersuchung anberaumt wurde – mit ähnlichem Ergebnis.
Alljährlich geben die Creditreform Neuss, der Rhein-Kreis Neuss, die Sparkasse Neuss und die Industrie- und Handelskammer Mittlerer Niederrhein diese Untersuchung in Auftrag: 500 Unternehmer werden hier telefonisch befragt. Das aktuelle Resultat: Die regionale Wirtschaft erlebt einen in dieser Höhe unerwarteten „Post-Corona-Konjunkturboom“. Das regionale Geschäftsklima steigt im Sommer 2022 um 24 auf 150 Punkte und erreicht so ein neues Rekordhoch – und das trotz globaler Krisenlagen. Das Ende der Corona-Auflagen befeuert offensichtlich die Auftrags-, Umsatz- und Ertragsentwicklung. Das regionale Personalklima bleibt zwar im „grünen Bereich“, stagniert aber. Von einer „Überzeichnung durch Nachholeffekte“ spricht André Becker, Mitglied der Geschäftsleitung von Creditreform Düsseldorf/Neuss: „Trotz fast durchgehend positiver Bewertungen der regionalen Unternehmen finden sich in vielen Teilergebnissen Anzeichen für konjunkturellen Pessimismus. Diese lassen sich insbesondere aus den Bewertungen der regionalen Unternehmen zum negativen Einfluss des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und den Folgen auf die Energie- und Rohstoffversorgung ableiten. Es gibt viele Zeichen, die von überschwänglicher Freude ob des neuen Allzeithochs abhalten. Angesichts der zahlreichen globalen Stressfaktoren und einer möglichen erneuten Corona-Welle im Herbst ist daher dringend vor zu viel Euphorie zu warnen.“
„Die so positiven Werte erscheinen zunächst überraschend, belegen aber erneut die enorme Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft im Rhein-Kreis Neuss“, erläutert Landrat Hans-Jürgen Petrauschke die aktuellen Ergebnisse. „Viele Unternehmen haben dabei von einer steigenden Nachfrage nach dem Wegfall der Corona-Beschränkungen profitiert. Möglicherweise werden sich aber auch die durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ausgelöste Inflation, Lieferschwierigkeiten, steigende Energiekosten, mögliche Engpässe bei der Gasversorgung und Sorgen vor einer Rezession noch negativ auswirken. Auch der Fachkräftemangel stellt Unternehmen zunehmend vor Probleme.“ So beklagen rund 50 Prozent der regionalen Unternehmen, dass der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern die Wachstums- und Entwicklungschancen des eigenen Unternehmens behindere. Besonders betroffen ist hier das Baugewerbe.
„Wir wissen: Die Corona-Pandemie ist noch nicht vorbei. Zudem stellen uns auch die wirtschaftlichen Folgewirkungen des russischen Angriffskrieges vor neue Herausforderungen“, so Marcus Longerich, Vorstand der Sparkasse Neuss. „Unser Ziel muss weiterhin sein, die wirtschaftlichen Belastungen durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine für unsere mittelständischen Kunden so gering wie möglich zu gestalten. Hierzu gehört besonders die Förderung und Unterstützung von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Das gilt auch, um die offensichtlich zurückgehende Investitionsbereitschaft in der regionalen Wirtschaft positiv zu unterstützen. Sicher ist: Wir werden in unserem besonderen Engagement für die heimische Wirtschaft nicht nachlassen.“
Und IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz führt weiter aus: „Ich freue mich, dass viele von der Pandemie geplagte Branchen, wie etwa die Gastronomie oder die Veranstaltungswirtschaft, ihr erstes normales Geschäftsjahr seit drei Jahren erleben.“ Dennoch müssten auch die Risiken im Blick behalten werden. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine habe die schwerste Energiepreiskrise seit Jahren ausgelöst. Die hierdurch gestiegenen Erzeugerpreise gewerblicher Produkte hätten das Potenzial, die Konjunktur extrem zu bremsen. Da Gas als Übergangstechnologie zunächst ausfalle, sei auch die Bewertung des Strukturwandels im Rhein-Kreis heute eine andere als vor einem Jahr. „Die Mittelständler bewerten den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung inzwischen wesentlich kritischer“, so Steinmetz. „Mittlerweile sehen 92 Prozent der Unternehmen in einer teureren beziehungsweise unsicheren Energieversorgung ein Risiko des Strukturwandelprozesses.“
Fazit: Eine „Extraportion Wachstum“, wie es sie in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr gegeben hat, wird es 2023 höchstwahrscheinlich nicht mehr geben. Im Gegenteil: Angesichts der „Energiepreisexplosion“ und einer weiteren drastischen Verteuerung der Lebenshaltungskosten rechnen Experten in den kommenden zwölf Monaten mit einer Rezession, also einem Rückgang der Wirtschaftstätigkeit. Rolf Retzlaff