Bis 2039 müssen 4.600 Wohnungen in Neuss gebaut werden – Eile ist geboten Wohnungsnot trifft auf Neubauflaute: In Neuss ist Wohnraum Mangelware
Neuss · Wer derzeit in Neuss eine Wohnung zur Miete sucht oder zur Vermietung anbietet, weiß es: Wohnungen sind heiß begehrte Mangelware. Auf eine freie Wohnung kommen in aller Regelmäßigkeit Hunderte Bewerber. Das hat einen offensichtlichen Grund: Es fehlt an Wohnraum in Neuss. Wie es um den Wohnungsmarkt steht, hat eine Regional-Analyse ergeben. Die Stadt hat einen Plan.
„Bis 2028 braucht der Rhein-Kreis Neuss den Neubau von rund 1.900 Wohnungen – und zwar pro Jahr“, so lautet die Wohnungsbau-Prognose für die kommenden vier Jahre, die das Pestel-Institut in einer aktuellen Regional-Analyse zum Wohnungsmarkt ermittelt hat. „Der Neubau ist notwendig, um das bestehende Defizit – immerhin fehlen im Rhein-Kreis Neuss aktuell rund 4.570 Wohnungen – abzubauen: Aber auch, um abgewohnte Wohnungen in alten Häusern nach und nach zu ersetzen. Hier geht es insbesondere um Nachkriegsbauten, bei denen sich eine Sanierung nicht mehr lohnt“, sagt Matthias Günther vom Pestel-Institut.
Da die Analyse nur den Kreis in seiner Gesamtheit untersucht hat, hat der Stadt-Kurier im Neusser Rathaus nachgefragt. „Laut dem Gutachten zum bezahlbaren Wohnraum sind bis zum Jahr 2039 rund 4.600 neue Wohnungen in Neuss erforderlich, um den ermittelten Bedarf ausgleichen zu können. Auf dieser Basis hat der Rat der Stadt Neuss in seiner Sitzung am 16. Juni 2023 das Gutachten zur Leitlinie des weiteren wohnungspolitischen Handelns beschlossen“, heißt es.
Im Beschluss ist festgelegt, die „Wohnraumversorgung vieler Haushalte mit bezahlbarem, adäquat großem Wohnraum“ sei weiter zu forcieren, wobei öffentlich geförderter und preisgedämpfter Wohnraum im Fokus stehen solle. Und: „Die Verwaltung wird beauftragt, auf Grundlage des Gutachtens und des Beschlusses des Haupt- und Sicherheitsausschusses zur ,Offensive für den bezahlbaren Wohnraum‘ (Januar 2021) ein Handlungskonzept bezahlbarer Wohnraum in Neuss vorzulegen, das mindestens 1.250 öffentlich geförderte und mindestens 1.200 preisgedämpfte neue Wohnungen bis zum Jahr 2039 zum Ziel hat. Das Handlungskonzept bezahlbarer Wohnraum ist spätestens nach fünf Jahren zu evaluieren.“
Die Stadt Neuss hat also einen Plan. Doch sind die Ziele, die sie sich gesetzt hat, umsetzbar? Günther vom Pestel-Institut spricht von einem „lahmenden Wohnungsneubau, dem mehr und mehr die Luft ausgeht“. Im gesamten Rhein-Kreis gab es in den ersten fünf Monaten dieses Jahres nach Angaben des Instituts lediglich für 314 neue Wohnungen eine Baugenehmigung (Vorjahreszeitraum: 498). „Damit ist die Bereitschaft, im Rhein-Kreis Neuss neuen Wohnraum zu schaffen, innerhalb von nur einem Jahr um 37 Prozent zurückgegangen“, so der Wissenschaftler.
Und auch vonseiten der Stadt Neuss heißt es: „Für die nächsten drei bis vier Jahre wird allgemein von einer zurückgehenden Zahl an Fertigstellung von Bauprojekten ausgegangen. Der Durchschnittswert der vergangenen zehn Jahre von 330 Wohnungen pro Jahr wird wohl nicht erreicht werden können. Dennoch werden weiterhin Projekte umgesetzt werden, die sich positiv auf den Neusser Wohnungsmarkt auswirken.“ Und davon seien es einige: „Zahlreiche Investoren sind gerade dabei, ihre Projekte den geänderten Rahmenbedingungen anzupassen. Die Reaktionen sind vielfältig, so werden Projekte zeitlich geschoben oder unter Gesichtspunkten von Kostenersparnis umgeplant“, erklärt die Stadt.
Vor diesem Hintergrund seien nach Beobachtungen der Stadt Neuss etwa 20 Wohnungsbauprojekte aktuell in der Planungsphase. Rund zehn Projekte (mit fünf und mehr Wohneinheiten) seien derzeit in der Bauphase, darunter die Neubebauung an der Annostraße (63 Wohnungen) und am Weißenberger Weg 100 (zehn Wohnungen) (beide GWG e.G), Am Hohen Weg (24 von insgesamt 48 Wohnungen, Neusser Bauverein) und an der Melli-Beese-Straße (104 Wohnungen, Vivawest).
Der Neusser Bauverein, eine der treibenden Kräfte des Wohnungsneubaus in der Quirinusstadt, sieht die Lage ähnlich. Geschäftsführer Dirk Reimann perspektivisch: „Der Neusser Bauverein sieht die Entwicklung des Wohnungsmarktes in den kommenden Jahren als komplex und herausfordernd an, insbesondere aufgrund der Unsicherheiten bei Baukosten, Materialpreisen und Zinsen. Diese Faktoren erschweren die Planungssicherheit und Umsetzungen neuer Bauprojekte erheblich.“ Dennoch sei er optimistisch und plane weiterhin, bezahlbaren Wohnraum in Neuss zu schaffen. „Insgesamt erwartet der Bauverein eine weiterhin angespannte, aber lösbare Situation, in der strategische Investitionen und kluge Planungen entscheidend sind.“
Darüber hinaus stünden von den rund 5.850 leerstehenden Wohnungen im Kreis – das sind etwa 2,6 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes – gut 2.580 Wohnungen schon seit einem Jahr oder länger leer. „Das sind immerhin rund 44 Prozent vom Leerstand. Dabei geht es allerdings oft um Wohnungen, die auch keiner mehr bewohnen kann. Sie müssten vorher komplett – also aufwendig und damit teuer – saniert werden“, sagt Matthias Günther.
Auch aus dem Neusser Rathaus heißt es: „Eine Befragung von Immobilienmaklern im Jahre 2022 ergab, dass Leerstand nahezu nicht existent ist. Leerstände beziehen sich daher in der Regel auf Umzüge und Sanierungen.“ Im 7.500 Wohnungen umfassenden Bestand des Neusser Bauvereins gebe es derzeit etwa überhaupt keinen Leerstand – auch nicht sanierungsbedingt.
Problematisch: Viele Hauseigentümer hielten sich mit einer Sanierung zurück: „In ihren Augen ist eine Sanierung oft auch ein Wagnis. Sie sind verunsichert. Sie wissen nicht, welche Vorschriften – zum Beispiel bei Klimaschutz-Auflagen – wann kommen. Es fehlt einfach die politische Verlässlichkeit. Ein Hin und Her wie beim Heizungsgesetz darf es nicht mehr geben“, kritisiert der Leiter des Pestel-Instituts. Außerdem hapere es bei vielen auch am nötigen Geld für eine Sanierung.
Das Pestel-Institut hat die Regional-Analyse zum Wohnungsmarkt im Auftrag des Bundesverbandes Deutscher Baustoff-Fachhandel (BDB) durchgeführt. Dessen Präsidentin Katharina Metzger fordert, die Baustandards zu senken: „Einfacher bauen – und damit günstiger bauen. Das geht, ohne dass der Wohnkomfort darunter leidet. Andernfalls baut bald keiner mehr.“ Es müsse ein „starkes Abspecken“ bei Normen und Auflagen geben – im Bund, bei den Ländern und Kommunen. Sie warnt: „Am Ende stoppen überzogene Förderkriterien, Normen und Auflagen den Neubau von Wohnungen – von hoch geschraubten Klimaschutzmaßnahmen, ohne die es keine Förderung gibt, bis zu Stellplätzen, ohne die erst gar nicht gebaut werden darf.“
So geschieht es aktuell auch vor Ort. Vom Bauverein heißt es dazu, dass „gestiegene Baukosten, hohe Zinsen sowie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ Neubauten erschweren. Reimann: „Diese Faktoren führen dazu, dass die Wirtschaftlichkeit von Neubauprojekten zunehmend in Frage gestellt wird. Für den Neusser Bauverein bedeutet das, dass unsere Projekte unter den aktuellen Bedingungen neu bewertet und deren Realisierung durch ein Monitoring permanent analysiert wird, um lösungsorientierte Ergebnisse zu erzielen.“
Und die geplanten Projekte würden den Neusser Wohnungsmarkt deutlich entspannen: In diesem Jahr hat der Bauverein vier Mehrfamilienhäuser entlang der Römerstraße mit insgesamt 48 öffentlich geförderten Wohnungen fertiggestellt, derzeit sind noch 379 bezahlbare Mietwohnungen sowie 199 Eigentumsmaßnahmen in Planung, die größtenteils im Augustinus-Park, auf dem Gelände hinter dem früheren Alexius-Krankenhaus, entstehen werden. „Sobald die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie die Baupreisentwicklung oder die Fördermittelkonditionen es zulassen, nachhaltige, immobilienwirtschaftliche Investitionen vorzunehmen, wird mit dem Bau begonnen“, verrät der Geschäftsführer.
Das harte, aber ehrliche Fazit der Verbandspräsidentin des Baustoff-Fachhandels gemeinsam mit dem Pestel-Institut spricht von einer „fatalen Situation“. Metzger: „Wohnungsnot trifft auf Nicht-Wohnungsbau. Diese toxische Entwicklung muss dringend gestoppt werden.“ Denn Wohnungsmangel schaffe soziale Spannungen. „Wenn sich Menschen wochen- und monatelang um eine neue Wohnung kümmern müssen, dann braut sich da etwas zusammen. Das ist Gift für das soziale Miteinander in der Gesellschaft.“